INDUSTRIAL TECHNOLOGY
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Paul Christian Jezek 27.10.2016

Kopf-an-Kopf-Rennen der Chemieunternehmen in Europa und USA

Dank gesunkener Ölpreise holen die Europäer auf und liefern sich mit US-amerikanischen Firmen ein Rennen auf Augenhöhe.

WIEN. Europäische Chemiekonzerne haben in den vergangenen Jahren verstärkt im Ausland investiert, vor allem in den USA. Die Gründe dafür sind unter anderem die niedrigeren Rohstoff- und Energiepreise in den Vereinigten Staaten und der daraus resultierende Wettbewerbsvorteil. Konkurrenz für die Europäer kommt neben den USA auch aus Asien – trotzdem steht die Chemieindustrie hierzulande weiterhin gut da.

Optimale Wachstumsbedingungen
„In Österreich zählt die Chemische Industrie mit 260 Betrieben und fast 44.000 Beschäftigten zu den größten Industriebranchen“, erklärt Marina Machan, Bereichsleiterin für Information & Rating bei Prisma – Die Kreditversicherung. Die Nähe zum Wachstumsmarkt Osteuropa und die ausgezeichnete Ausbildung der Mitarbeiter seien die idealen Voraussetzungen für Forschung, Entwicklung und Produktion. Der Kunststoff-Cluster mit teilweise grenzüberschreitenden Aktivitäten ermögliche der Branche auch 2016 optimale Wachstumsbedingungen.

Zwei Drittel der Produktion gehen in den Export. Führend sind hier Kunststoffwaren mit 36%, Chemikalien mit 11% und Pharmazeutika mit 15%. „Trotz weiterhin stagnierender Umsätze erwirtschaftet die Chemische Industrie nach wie vor gute operative Gewinnmargen; niedrige Rohstoff- und Energiepreise tragen dazu ihren Teil bei“, so Machan und ergänzt: „Wir stufen das Branchenrisiko als ‚gering‘ ein und gehen davon aus, dass sich das positive Umfeld des Jahres 2016 in den einzelnen Bilanzen widerspiegeln wird.“

Brexit-Unsicherheiten
Die gute Situation der europäischen Chemiebranche liegt vor allem an der Talfahrt des Preises für den primären Rohstoff Naphtha. „Europäische Chemieunternehmen sollten sich lieber nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen“, mahnt Machan. „Es ist definitiv praktisch und manchmal sogar entscheidend, wichtige Materialien zu wesentlich günstigeren Preisen einzukaufen. Aber sich kurzfristig darauf zu verlassen, dass die niedrigen Energiekosten die Unsicherheiten angesichts möglicher Brexit-Folgen für die Branche oder den schwachen Welthandel kompensieren, könnte sich langfristig rächen. Die trüben Welthandelsaussichten drücken auf die Wachstumsrate in der europäischen Produktion, die mit +1,3 Prozent in 2016 und 1,1 Prozent in 2017 nicht gerade rosig ist. Trotz ihrer Größe sind auch europäische Chemiekonzerne nicht immun gegen eine sinkende Nachfrage.“

Die Situation der europäischen Marktteilnehmer hängt auch am Zustand ihrer Hauptabnehmer: das Baugewerbe sowie die Automobil- und Elektronikbranche – schwächelt ein Segment, steigt der Druck umgehend.

Der Schiefergas-Glücksfall
Langfristig ist insbesondere der Wettbewerb der amerikanischen Chemieunternehmen ein Schlüsselfaktor bei Erwartungen und Risikoentwicklung. Laut Machan hätten die Chemieunternehmen in den USA weiterhin kräftigen Rückenwind. „Sie nutzen bei der Herstellung des wichtigsten Grundstoffs Ethylen nicht wie die Europäer das aus Rohöl hergestellte Naphtha, sondern Ethan, das vom Gaspreis beeinflusst ist. Die Schiefergas-Revolution ist daher für die Amerikaner ein echter Glücksfall, quasi eine tektonische Verschiebung der Chemieplatten. Gaspreise liegen dadurch nur etwa halb so hoch wie in Europa und sogar drei Mal niedriger als in Asien. Dies verschafft ihnen einen Wettbewerbsvorteil. In etwa zehn Jahren werden amerikanische Firmen zudem von den getätigten Investitionen in Produktionsstätten profitieren; darauf sollten sich die Europäer am besten jetzt schon einstellen“, merkt Machan an.

Mit Forschung und Entwicklung aufs richtige Pferd gesetzt
Mit Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie einer weiteren Spezialisierung hätten die europäischen Unternehmen laut Machan in den vergangenen Jahren bereits aufs richtige Pferd gesetzt.

„Dass die europäische Chemieindustrie in der Lage ist, auch in schwierigen Situationen mitzuhalten, haben die Unternehmen in der Vergangenheit bereits zur Genüge bewiesen“, sagt Machan. „Die US-amerikanischen Unternehmen hatten viele Jahre die Nase weit vorn. Die hiesigen Marktteilnehmer haben versucht, durch erhebliche Effizienzsteigerungen wenigstens halbwegs mitzuhalten. Durch den Einbruch der Ölpreise haben sich die europäischen Unternehmen in ein Kopf-an-Kopf-Rennen zurückgekämpft. Um das Rennen auch nach Hause zu fahren, sollten sie sich ungeachtet der Rohstoffpreise weiter spezialisieren und zielgerichtet investieren – und zwar nicht upstream in die Produktion, sondern downstream in die nachgelagerte Verarbeitung und in Dienstleistungen mit wesentlich höherem Mehrwert. Das könnte ihnen das Alleinstellungsmerkmal bringen, das sie brauchen.“

In spezialisierten Chemiesparten machen Innovationen bereits heute den Unterschied und fallen wesentlich stärker ins Gewicht als die Rohstoffkosten. Technologisch höherwertige Produkte liefern in der Regel höhere Margen – zum Beispiel Verbraucherchemikalien, die in Hygiene- und Kosmetikprodukten verwendet werden. (pj)

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