Die trojanische Pferdestärke von Geschichten.
Kürzlich stieß ich beim Durchblättern von Magazinen auf einen Artikel über die Magie von Geschichten und blieb naturgemäß hängen. Der Text stammte von einer jungen Bestsellerautorin, die zu den Größen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählt. Sie beschreibt darin, wie sie als Kind entdeckte, was Geschichten für uns Menschen tun können, und kommt schließlich zum Fazit: „Denn das ist das Größte, was eine Geschichte zu leisten vermag: wenn sie Menschen, die Schmerzen und Angst haben, davon ablenken kann.“
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Hm … dachte ich mir. Wenn das das Größte ist, dann wird die Luft aber bedrohlich dünn. Wenn nämlich eine bedeutende Autorin die Kraft ihrer Arbeit daraufhin zuspitzt, dann ist es ja auch kein Wunder, wenn rundherum die weit weniger bedeutenden sich dort wie da im Storytelling verheddern. Weil sie glauben, es würde ums Erzählen an sich gehen. Denn an dieser Angel wird ja der Wirkungsköder ausgeworfen, nach dem das Publikum artig schnappt, damit es, flugs verhakt, ans rettende eskapistische Ufer gezogen wird. Dorthin, wo’s in der Spannung, in der Romantik und im Amüsement gemütlich ist und bleibt. Dort wird dann im Gewöhnlichen gewohnt. Dort, wo Dekoration Kunst und Schönheit ersetzt, wo Wirkung die Wahrheit ablöst und der momentane Effekt das ewige Licht im Leuchtturm an der Küste des gelungenen Selbst ausblendet. Ausweitung der Komfortzone, quasi.
Wenn das wirklich so ist, dann konsumieren wir bald überhaupt nur noch Unterhaltungsprodukte, deren Qualität in Mengenangaben gemessen wird, in Klicks, Reichweiten, Verkaufszahlen und solchen Sachen. Deren Kunststück ist, den Geschmack der Massen zu treffen, nicht deren Fühlen, Denken und Tun zu inspirieren. Da bleibt nicht mehr Tiefgang als der vom Traumschiff. Da geht’s halt bloß noch um den Algorithmus. Oder, wie selbst jene, die vom Algorithmus prächtig leben, meistens sagen: um den Algorhythmus.
Nichts gegen gelegentliche Alltagsflucht, oh nein. Und schon gar nichts gegen gute Unterhaltung. Doch sollten wir uns selbst schon auch dabei etwas zutrauen, uns etwas zumuten, es uns keinesfalls allzu einfach machen, finde ich. Nicht allzu bequem machen in unserer Haut, die dann zur faulen wird, auf der wir herumliegen. Und langsam vor uns hinmodern, auf der faulen Haut, der schuppigen, der Hornhaut innen und außen, weil wir auf nichts mehr einen Gedanken verschwenden als auf uns selbst. Und darauf, was wie wirkt – bei uns, für uns. Wie wir wirken. Was uns ablenkt von … hm … ja: wovon denn? Doch auch wieder nur von uns selbst, nicht wahr?
Ablenkung? Im Gegenteil!Ablenken von Schmerzen und Angst ist nicht die Aufgabe von Geschichten, sondern das glatte Gegenteil. Hinzeigen auf Schmerz und Angst und Möglichkeiten anbieten, wie wir uns durch sie verwandeln können in etwas, das man als ein besseres Selbst bezeichnen will! Und damit gleich Schmerz und Leid mitverwandeln, in etwas, das wir ringsum einladend anbieten. Nach unserem Happy End heimkehren und kostbare Souvenirs verteilen: ein bissel Heilkraft, ein bissel Erkenntnis, das ist Story.
So viel dürfen wir uns ruhig zutrauen. Auch in der Unterhaltung.
Übrigens: das kann Unterhaltung sogar besonders gut. Eine schwere Aufgabe mit Leichtigkeit unterfüttern, nichts und niemand kann das so gut wie Unterhaltung. Wenn wir uns in Empathie mit den Figuren in Geschichten verbinden, weil wir uns in unserem Unterbewusstsein die Frage stellen: Was würde ich tun in diesem Dilemma? Wie würde ich mich entscheiden, was wünsche ich der Hauptfigur, wovor will ich sie warnen, worin mitfiebern? Mitfühlen in Schmerzen und Angst und endlich erleichtert aufatmen. Das ist es doch, was Geschichten mit uns und für uns tun. Mit den Figuren in fiktionalen Geschichten erschaffen wir uns Stellvertreter, die uns dabei helfen, uns selbst in unserer realen Welt zu verstehen. Zu erkennen und zu verstehen, unsere Stellvertreter – in ihrem Schmerz, in ihrer Angst und also in unserer. Daher hat die Evolution uns die Fähigkeit des Geschichtenerzählens geschenkt. Dafür haben wir Sprache entwickelt – nicht zum Informationsaustausch, sondern zum Teilen von Erfahrung und Erkenntnis.
Fast alles, was Disney macht. Das meiste von Pixar. Ist das nicht Unterhaltung wie ein trojanisches Pferd? Wir lassen mit dem besonderen Geschenk etwas hinter unsere steinernen Mauern, das sich – im Gegensatz zum antiken Original – allerdings nicht als Danaergeschenk erweist, sondern im besten Fall als Geschenk des Himmels, das uns aus allen Wolken fallen lässt. Ein Kraftpaket, das uns von innen heraus stark macht. Fernsehserien wie „Glee“, „This is us“ oder „Ted Lasso“. Filme wie „Der König der Löwen“, „Toy Story“ oder „Soul“. Songs wie „Let it be“, „What’s going on“ oder „Wakeup everybody“. Bücher wie „Eine blaßblaue Frauenschrift“ – pardon, das war jetzt Literatur.
Trivial? Im Gegenteil!Ed Ruscha beschrieb einst, was gute Kunst für uns tut: „Bad art makes you say ,Wow! Huh?‘ Good art makes you say ,Huh? Wow!‘“ Deshalb bin ich mir bei Kunst im engeren Sinn nicht ganz sicher, aber bei Unterhaltung finde ich, jedes Stück – ja, Unterhaltung! – sollte mit einem Beipackzettel ausgeliefert werden, voller Hinweise auf die erwünschten Nebenwirkungen. Ans-Licht-Förderung-Stunde, sozusagen. Dieser Gedanke kam mir erstmals, als ich in einem meiner Workshops über die innere Story und ihren erkenntnisreichen Nährwert von – scheinbar – trivialen Geschichten wie „Rocky“ gesprochen hatte und in ein Rudel staunend aufgesperrter Schnäbel starrte.
Warum ist das so?
Vermutlich, weil uns in unseren Sprachen-Unterrichten zwar Grammatik eingefüllt wird, und Literaturgeschichte samt Zahlen-Daten-Fakten, und wir vielleicht auch noch die formale Schönheit des Geschaffenen illustriert bekommen, aber von den Lehrkräften kaum jemand Kontext, Sinn und Bedeutung vermitteln kann. Bei den bildenden Künsten und im Musikunterricht verhält es sich nicht anders. Wie auch …
Kein Wunder, dass der Blick fürs Besondere nicht da ist, dass nichts nach innen geht, weil ja das Außen schon oft genug mehr als überfordert und ablenkt. Weil Groß und Klein denken: wenn sie sich in einer Geschichte verlieren, dann wegen der probaten Dosis Spannung, Romantik und Amusement, und daran mäße man Qualität. Sie verstehen nicht, dass sie sich im besten Fall in den Geschichten nicht verlieren, sondern sich darin finden. Dass sie in berührenden Geschichten aufgehen, weil ihnen ein inneres Licht aufgeht, das sie erhellt und ihnen etwas ausleuchtet.
Vielleicht ragt hier der Gedanke ins Bild, dass es sich dabei doch um ein Champagnerproblem handelt. Kunst, Unterhaltung, Geschichten, Musik? – Wir haben eine Pandemie zu bewältigen, meine Damen und Herren, die Klimakrise noch dazu! An allen Ecken und Enden spalten sich Gesellschaften, brodelt es unter der Weltfriedensdecke, rutschen Demokratien auf dünnen Eisschollen herum, und was die Digitalisierung mit und aus uns machen könnte, zeigt sich allmählich auch, weil das Ding genüßlich aus dem Ruder läuft … Warum sollen wir uns bitte jetzt um die Magie von Geschichten kümmern und um das, was man darunter versteht oder eben nicht? Eben genau deshalb.
Nur wenn wir – eine ausreichende Menge von uns in Zahl und Tatkraft – im Stande sind, eine neue Geschichte für uns Menschen zu teilen, dann – und nur dann – haben wir eine Chance, in der Krisen-Liste voll Schmerzen und Angst die not-wendigen Möglichkeiten zu sehen, wie wir uns durch sie verwandeln können in etwas, das man als ein besseres Selbst bezeichnen will. Und damit gleich Schmerz und Leid mitverwandeln, in etwas, das wir rundherum einladend anbieten: jede Menge Heilkraft aus der Erkenntnis.
Hoffnungslos? Im Gegenteil!Diese Geschichte haben wir uns bereits vielfach erzählt und uns dabei bestens unterhalten. Seit Menschengedenken und in jüngster Zeit immer wieder. Zum Beispiel in „Der König der Löwen“. Zum Beispiel in „Toy Story“. Zum Beispiel in „Soul“. Wakeup, everybody!Damit hätten wir doch längst die Grundlage für sowas wie eine neue Geschichte, eine New Story, die für unsere ganze Gesellschaft – ja für die gesamte Menschheit! – taugt, oder?
Wofür wir die brauchen? Weil die alte Geschichte ausgedient hat und außerdem zwar effektiv war, aber falsch, jedenfalls gründlich missverstanden. Die ewige Geschichte, die wir uns und einander erzählen, seit wir als Menschheit denken könn(t)en, „Gut gegen Böse – und das Gute muss gewinnen“ hat nämlich einen systemischen Fehler. Die Guten sind in dieser Geschichte immer wir, die Bösen sind die Anderen. Allerdings sind wir in der Geschichte der Anderen nicht wir, sondern die Anderen, also die Bösen. Das Andere ist alles, was uns am Weg zum Gewinnen im Weg steht, also beherrscht, bezwungen und besiegt werden muss. Was wir dafür brauchen, das darf benutzt, ausgebeutet und verputzt werden. Alles dient als Ressource für unseren Gewinn, weil damit wir – also die Guten – gewinnen. Jeder gegen jeden und „… der Bauch einer Hyäne ist niemals voll …“
Eine New Story, eine neue, eine bessere Geschichte für uns alle, handelt von uns allen und multipliziert unsere Stärken, anstatt dass sie uns, wie die alte Story, auseinanderdividiert. In der alten Story gehen wir aufeinander los, in der neuen aufeinander zu. Jenseits von Schmerz und Angst.
Und diese Neue Geschichte ist tatsächlich doch auch eine sehr, sehr alte, die selten so eindrucksvoll erzählt wurde – und deshalb alle Jahre wieder – wie zu Weihnachten. Im Beipackzettel würde zu lesen sein: Das ist die Geschichte von Hoffnung. Das ist nämlich jenseits von Religionen, Traditionen und Generationen die innere Story von Weihnachten: Mit jedem Kind, das geboren wird, wird auch die Hoffnung geboren, dass die Welt durch dieses Kind eine bessere, friedlichere, liebevollere wird. Ein paar Extra-Weihnachtsgedanken gibt’s hier in meinem Podcast.
Vielleicht wird es ja heuer zu Weihnachten geboren – das berühmte Weihnachtsbaby? Es hört seinen Ruf, nimmt ihn an und bringt etwas in die Welt, das wir alle brauchen. Möglicherweise – auch diese Hoffnung besteht! – lebt es bereits mitten unter uns, und wir müssten es nur aufwecken – du, ich, wir –, damit diese neue Geschichte in die Welt kommt und dort von unserer Verbundenheit erzählt. Und vom Glauben daran, dass uns das Leben dadurch besser gelingt, und von der Hoffnung, die sich erfüllt, wenn wir uns um den gegenwärtigen Moment kümmern und dafür sorgen, dass er der beste aller Zeiten wird, anstatt uns Geschichten zu erzählen, die uns von der Wahrheit ablenken.
Von dieser neuen Geschichte handelt auch das Gedicht, das meine Großmutter, die alte Story Dudette, ohne jemals zu den Größen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gezählt zu haben, in guter Tradition stets vorm funkelnden Weihnachtsbaum aufsagt. Es trägt den Titel: „New Story. New Glory.“
New Story. New Glory.
P.S.: Weitere Artikel rund um Storys & Brands findest du im Blog von Markus Gull.
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