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Auftauchen oder absaufen?

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Erstellt von Markus Gull on 17/07/2020

Auftauchen oder absaufen?

Einst, als Schüler, wussten wir am Beginn der Sommerferien bereits, was wie das Amen im Gebet am Ende der Freizeit in Freiheit in diesem Sommer auf uns lauert: der Auftrag zum Aufsatz unter der Überschrift „Mein schönstes Ferienerlebnis”. Das war ein kompliziertes Unterfangen, vor allem für jene von uns, bei denen es nicht rasend viel zu erleben gab – also für mich. Keine Sprachferien, Abenteuerurlaube oder sonstige berichtenswerte Ereignisse. Bereits der schlichte Titel „Mein Ferienerlebnis” wäre in manchen Jahren der schriftlichen Lüge gleichgekommen. Vom „schönsten” brauchen wir gar nicht erst anzufangen.

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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!

Den Blogartikel für die Ohren gibts bei Apple PodcastSpotifySoundcloud und natürlich auf meiner Website.

Es gab Jahre, da tauchte ich Anfang Juli im schönen Salzburger Land in den Obertrumer See ein und wurde, unter meinem Protest, Anfang September wieder herausgezogen. Dort verweilte ich, mit Taucherbrille und Schnorchel ausgestattet, oft stundenlang reglos im seichten Wasser, war mir quasi selbst Hans Hass als Beobachter von Fischen und Kaulquappen, die mich bald als einen der ihren in ihre Kaltblüter-Herzen schlossen. Ich bin mir sicher, es gibt aus dieser Zeit Aufzeichnungen des hiesigen Fischereiverbandes, in dem ich erwähnt werde, vielleicht sogar mit Bild. Dass mir damals keine Schwimmhäute wuchsen, ärgert mich bis heute, zumal „Der kleine Wassermann” aus Otfried Preußlers goldener Feder bei mir durchaus Heldenstatus genoss.

Als ich älter wurde, war es damit auch vorbei, die Erlebnisse wurden deshalb aber nicht mehr oder gar berichtenswerter. Ich verbrachte meine Sommer seltener unter Wasser, sondern – unter dem Protest meiner Mutter – auch bei so genanntem schönen Wetter weitgehend im Haus. Dort gab es zwar ebenfalls nicht viel zu erleben, aber eine Menge zu entdecken und zu erkennen: also doch wieder zu erleben. Und zwar zwischen Buchdeckeln.

Mein Geburtstag am Anfang der Ferien und die dadurch ausgelösten Buchgeschenke waren das, was man heute perfektes Timing nennt.

Hätte man mir danach die Aufgabe gestellt, einen Aufsatz über „Meine schönste Ferienerkenntnis” zu schreiben, hätte mir ein Lehrkörper vermutlich einen Schlumpf unters Werk gestempelt, vielmehr ein goldenes Sternlein eingeklebt. Damals gab es noch keine Schlumpfstempel, nicht einmal Internet. Höchstens Internat, wenn man nicht brav war, aber das ist eine andere Geschichte.

Ja, die andere Geschichte.

Die eine Geschichte erzählt, was wir erlebten, die andere erzählt, was wir erkannten. Die andere Geschichte, die innere, ist in Wahrheit die alles entscheidende. Hätte uns das nur irgendein Lehrer erklärt – unser ganzes Leben wäre anders verlaufen, und ich behaupte: jedenfalls nicht schlechter. Meines jedenfalls unter Garantie nicht, inklusive Ferien.

Die innere Geschichte entscheidet darüber, ob wir auftauchen oder absaufen im Meer des Lebens, ob es uns See ist oder Sumpf. Unsere zweite, die innere Geschichte, eicht unseren Kompass auf unserer Lebensreise, auf der wir tunlichst Kapitän*innen sein sollten, jedenfalls mit starker Hand am Steuer stehen.

Die innere Sommer-Geschichte.

Wir entscheiden selbst über unsere innere Geschichte, über die, die wir uns selbst erzählen. Die innere Geschichte ist tatsächlich unsere einzige Möglichkeit, unsere äußere Geschichte zu steuern. Denn in den sonnigen Süden kommt nur, wer zuvor eingenordet ist.

Unsere hilfreichsten Adjutanten sind jene Menschen, die vor uns über dieselben Sachen nachgedacht haben wie wir jetzt und die ihre Erfahrung mit uns teilen, damit wir entscheiden können, welchem Stern wir folgen. Damals die Oma, heute kaum noch die Eltern, mit viel Glück unsere Lehrer. Aber immer im Stand-by-Modus: Otfried Preußler, Astrid Lindgren, Erich Kästner, Hermann Hesse, Virginia Woolf, Albert Camus, Toni Morrison, Michael Köhlmeier, Marlene Streeruwitz, Thomas Bernhard, Jonathan Franzen, Karen Blixen, Charles Eisenstein, Harper Lee – you get the idea …

Sie zeigen uns, wo der Nordstern leuchtet. Sie hängen uns Sterne an den Himmel, Sterne, die uns als Werte leuchten, damit wir Orientierung finden, wohin auch immer wir unterwegs sind. Das können wir uns ja selbst aussuchen, das sollten wir uns unbedingt selbst aussuchen.

Hätte mir das irgendein Lehrer erklärt, hätte ich vermutlich bei der Entscheidung über die dritte Fremdsprache Griechisch gewählt und nicht Französisch. So kann ich heute beides nicht.

Bei Griechisch wäre ich vermutlich in gutem Kontakt mit den weisen Stoikern gekommen und hätte Epiktetos entdeckt, und seinen klugen Satz: „Jedes Ding hat zwei Henkel. An dem einen kann man es anfassen, an dem anderen nicht.”

Epiktet selbst war ja ein gutes Beispiel fürs Anpacken am richtigen Henkel, an dem er seinen Lebenslauf von Sklave auf Begründer einer Philosophenschule drehte.

Urlaub einmal anders. Oder ähnlich gleich?

In diesem Jahr werden viele Urlaube vermutlich aus naheliegenden Gründen eher auf naheliegenden Gründen stattfinden und nicht etwa bei den Griechen. Wir können dennoch eine Menge von ihnen lernen, zumal von den alten Griechen. Nicht für die Schule, sondern für das Leben, wie Seneca, ein weiterer großer Stoiker, bemerkte, und zwar auch in den Ferien. Denn die alten griechischen Philosophen waren keine entrückten Schwurbler von abstrakten Denkspiralen rund um bedeutungsvolle Fragen wie warum denn die Banane krumm sei, sondern Ergründer und Vermittler von lebenspraktischen Erkenntnissen, die uns bis heute Richtung, Geschwindigkeit und Drall geben können.

Und zack! meldet sich auf Stichwort schon wieder Epiktetos: „Zwei Gäste sind es, die du stets bewirtest: deinen Leib und deine Seele. Was du dem Leib bietest, gibst du bald wieder her. Was du aber der Seele bietest, behältst du für immer.”

Dem Teil mit dem Wiederhergeben werden zwar alle widersprechen, die den Göttern des reichhaltigen Urlaubsbuffets und ihrem Fluch: „A moment on the lips – a lifetime on the hips” mit lauterem Hüftgold lebenslange Sühneopfer darbringen. Und so mutiert die Frage „Was war dein schönstes Ferienerlebnis?” irgendwann im Laufe des Lebens zur Frage „Wie viel hast du im Urlaub zugenommen?”, was auch erklärt, warum man vom zunehmenden Alter spricht. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

So oder so ist tunlichst Achtsamkeit auf das geboten, was wir reinstopfen in unsere Köpfe oder uns reinstopfen lassen.

Im Urlaub könnten wir davon einiges auslassen, oder wieder rauslassen, und danach sogar leichter, befreiter und selbstbestimmter wieder auftauchen in unserer alten Welt, weil wir zum Beispiel endlich aufhören, in Ablenkung und Verhaltenssüchten abzusaufen. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich leide darunter – im doppelten Sinn – und gönne mir definitiv ein Digital-Detox-Programm. Das will ich zum neuen Standard erheben und nicht ab Herbst im Jo-Jo-Effekt auch noch auf TikTok präsent sein.

Oft hilft in diesen Situationen, dass man sich von etwas, das einem zu viel ist, noch einmal so viel zu viel reinpfeift, bis man sich einmal davon ankotzt. Ab dann wird’s besser. Dieser Kick-off hilft zwar nicht, falls du Keith Richards bist, aber für uns anderen ist es definitiv einen Versuch wert.

Auf meiner Seefahrt in selbstbestimmtere freie Gewässer habe ich mir deshalb den Sozialpsychologe Adam Alter als Adjutanten ausgesucht, der ein – so hoffe ich – perfektes Logbuch dafür verfasste: „Unwiderstehlich: Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit.”

Bei Amazon* heißt es dazu: „Alter warnt eindringlich vor dem bedrohlichen Anstieg der Verhaltenssüchte im digitalen Zeitalter – und zeigt auf, wie wir ihnen widerstehen können. Etwa die Hälfte der westlichen Bevölkerung ist nach mindestens einer Verhaltensweise süchtig. Wie unter Zwang hängen wir an unsere E-Mails, Instagram-Likes und Facebook-Posts; wir schießen uns mit Fernsehserien ins Koma, können das Online-Shoppen nicht lassen, arbeiten jedes Jahr noch ein paar Stunden länger; wir starren im Schnitt drei Stunden am Tag auf unsere Smartphones. Ein Grund dafür liegt im suchterzeugenden Design dieser Technologien. Das Zeitalter der Verhaltenssüchte ist noch jung, doch immer deutlicher wird, wie sehr es sich um ein gesellschaftlich relevantes Problem handelt – mit zerstörerischer Wirkung auf unser Wohlergehen und besonders auf die Gesundheit und das Glück unserer Kinder. Der Psychologe Adam Alter zeigt, warum sich Verhaltenssüchte so wild wuchernd ausbreiten, wie sie aus der menschlichen Psyche Kapital schlagen und was wir tun müssen, damit wir und unsere Kinder es einfacher haben, ihnen zu widerstehen. Denn die gute Nachricht lautet, dass wir den Verhaltenssüchten nicht unumstößlich ausgeliefert sind.”

Auf meinem Bewusstseinsstand trägt Adam Alter damit zwar ein paar Eulen nach Athen, aber nachdem ich nicht Keith Richards bin, scheint mir das ein guter Beginn für den Befreiungsschlag zu sein, der tunlichst keiner ins Wasser sein möge, aber doch die Frage offen lässt, wie man mit diesen Medien umgeht, wenn man sie doch auch wieder als Kommunikationsmittel mit der Community nützen will. Ich hoffe, „Unwiderstehlich” gibt auch darüber Auskunft!

Was sagst Du?

Wenn Dir das alles verdammt nach Sommerpause für meinen Newsletter, Blog & Podcast sowie für meine Social-Media-Channel klingt, dann hast Du den Zwischenton glockenhell vernommen, denn so ist es. In dieser Liste der Pausemacher komme ich selbst nicht vor, denn El Storyduderino & seine Spielgefährten werken emsig weiter, werden sich aber zwischendurch auch einmal in fremde Feriengefilde verkriechen. Allerdings nicht nach Griechenland, sondern so oder so ins Leseland, denn an zwei Dingen hat sich bis heute nichts geändert, womit auch dieser Sommer trotz allen Widrigkeiten ein Sommer wie damals bleibt:

1. Zum Geburtstag am Anfang der Ferien wurde mir allerlei Buchfreude ans Herz gespült
2. Es gibt so eine Menge zu entdecken, und allerschönsten Ferienerkenntnissen steht nicht im Weg.

 

Besonders freue ich mich drauf, wenn „Ich bleibe hier” von Marco Balzano und „Die Optimisten” von Rebecca Makkai vom Belletristik-Stapel laufen.

In der Sachbuch-Ecke wärmt sich seit längerem Michael Schmidt-Salomon auf und hält für uns alle einen guten Rat bereit: „Entspannt euch! Eine Philosophie der Gelassenheit”

Womit wir wieder bei den Stoikern angelangt wären und bei Senecas Gedanken über die beiden Henkel. Vollständig lautet das Zitat nämlich so: „Jedes Ding hat zwei Henkel. An dem einen kann man es anfassen, an dem anderen nicht. Wenn dir dein Bruder unrecht tut, dann packe ihn nicht bei seinem Unrecht – denn an diesem Henkel lässt er sich nicht anfassen –, sondern lieber an dem anderen Henkel, der besagt, dass er dein Bruder ist und mit dir aufwuchs; dann wirst du ihn dort packen, wo er sich fassen läßt.” Dazu passt ideal „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit.” von Rutger Bregmann

Yuval Noah Harari sagte darüber: „,Im Grunde gut‘ hat mich dazu bewegt, die Menschheit aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Ich kann es nur empfehlen.” Ich bin nicht der Richtige, um Prof. Harari zu widersprechen, wünsche uns also von Herzen, dass Rutger Bregmann recht hat und behält. Denn dann würden wir uns alle miteinander miteinander leichter tun. Und wir hätten auch, trotz dessen, was bereits jetzt in vielen Urlaubsorten abgeht, gute Gründe, daran zu glauben, dass es uns auf diesem Planten weiterhin geben wird und dass das auch sinnvoll ist.

Perspektive auf das, was ist – das ist die Story, die wir uns selbst erzählen, das treibt unserer innere Geschichte und die steuert unsere äußere auf das zu, was sein könnte. Oft braucht es ganz einfach eine neue Perspektive, ein „Was wäre, wenn …?”, damit wir aufwachen, auftauchen, in unser nächstes Kapitel aufbrechen und unserer Wahrheit näher kommen. Auch dafür liegt ein Gedanke eines großen Stoikers in Griffweite: „Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache. Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, keine Wahrheit”, wusste unser römischer Lieblingskaiser Marc Aurel.

 

Unsere Perspektive ist unsere Wahrheit. So sagte es sinngemäß angeblich Zenon von Kition, als er auf der Stoa mit meiner Großmutter, der alten Story Dudette, Geschichten über das Leben teilte, die sie stets mit den Worten kommentierte: No Story. No Glory.

P.S.

In „No Story. No Glory. – Der Podcast” gibt’s eine aktuelle Episode zur Begleitung in die Ferien. Das Meer und die Seefahrt mit all den Geheimnissen, Mythen und den unbändigen Naturgewalten, die damit verbunden sind, faszinieren uns Menschen seit Anbeginn der Zeit. Neue Ufer, unbekannte Welten – des Meeres und der Liebe Wellen … Das Meer und die Seefahrt – ein unendlicher Schatz an Geschichten, reich an Metaphern auf unsere Reise durchs Leben, ins Unbekannte, in die Hoffnung. Irgendwo steht für jeden von uns ein Leuchtturm, der uns anzieht: unsere Bestimmung in unserem Bestimmungshafen, den wir selbst bei Gegenwind ansteuern. Wenn wir klug sind, klug geführt, uns selbst klug führen.

In dieser Ferien-Episode in einer seltsamen Zeit teile ich einige Gedanken über das Meer, die Bestimmung, Werte und Ziele mit dir – begleitet unter anderem von Ernest Hemingway, Eros Ramazzotti, The Police und Pier Paolo Pasolini. Wie sich das alles ausgeht? Hör rein und segle mit in die letzte Folge vor der Sommerpause. Sonnencreme nicht vergessen, bitte!!

Am besten gleich bei Apple PodcastSpotify oder Soundcloud abonnieren, und natürlich über meine Website.

P.P.S.

Die Links zu Amazon sind als Service zum Weiterschnüffeln gedacht und dafür, falls du sofort Deinen Kindle füttern willst. Wenn dein innerer Bücherwurm ein wenig frische Nahrung braucht, dann empfehle ich einmal mehr den – in The Digital Age zugegeben etwas nach „has been” miachtelnden – Besuch einer Buchhandlung. Tatsächlich aber duftet es dort nach dem Eau de Toilette vieler guter Geister. Jede*r stationäre Buchhändler*in freut sich nach wie vor über deinen Einkauf und besorgt dir jedes Buch im Handumdrehen, auch jene im Independent Publishing wie dieses da, senddas ein Typ geschrieben hat, der so heißt wie ich.

Mitunter wird die Buchhandels-Hand halt zwei- oder dreimal umgedreht … Die Extra-Belohnung für deine Geduld: Bei einem Besuch in der Buchhandlung entdecken dich immer wieder besondere Bücher in einer solch zauberhaften Weise, dass der Amazon-Algorithmus seinen Mund vor lauter Staunen nicht mehr zubringt.

Übrigens: Ich freue mich über einschlägige Lesetipps von Dir als Story Insider – nicht nur aus der Sach- & Fachbuch-Ecke.