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Die Story von der geschichtslosen Politik.

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Erstellt von Markus Gull on 04/10/2021

Die Story von der geschichtslosen Politik.

Auf der Suche nach Expertenmeinungen aus unterschiedlichen Perspektiven zur Bundestagswahl in Deutschland rief mich kürzlich eine Journalistin an. Sie wollte meine Sicht auf die Storys der kandidierenden Politiker erfragen.

Tja …

Dazu gibt’s jetzt nicht wirklich viel zu sagen.

Oder eigentlich doch.

Vor allem sind zuerst mal zwei Fragen zu stellen:

1. Welche Story denn?

2. Welche Politiker denn?

Von beidem ist ja nicht viel zu sehen. Jedenfalls nicht mit freiem Auge. Wenn’s nämlich um jenes Personal und ihre Gruppen geht, die zur Wahl stehen, dann hat das mit Politik(ern) ungefähr so viel zu tun wie Florian Silbereisen mit dem Iffland-Ring.

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So verhält es sich nicht nur in Deutschland. Gerade in Österreich denke ich mir manchmal, wenn ich Nachrichten sehe: Ist das noch „Versteckte Kamera“ oder schon „Die Truman Show“? Und was Prof. Peter Sloterdijk über Deutschland feststellte, gilt strukturell international, glaube ich: „Wir haben eine Politikergeneration, die ausnahmslos Selbsterfinder sind.“ Österreich liegt einmal mehr dem Erdteil inmitten, wie man’s in der hiesigen Bundeshymne besingt.

Vor einigen Wochen sprach ich mit einem hochrangigen ÖVP-Politiker, der im Rahmen seiner Möglichkeiten anständig zu sein scheint. Ein original Schwarzer, der sich türkis anstreichen ließ. Wir redeten über die hierzulande herrschenden Zustände und das Haltbarkeitsdatum von Sebastian Kurz, zu dem mein Gesprächspartner mit treuherzigem Schulterzucken meinte: „Der gewinnt uns halt die Wahlen.“ Wenn’s also die Aufgabe eines Politikers ist, Wahlen zu gewinnen, dann weiß ich auch nicht mehr. Bislang dachte ich nämlich, Politiker wären für die Gestaltung von Zukunft zuständig. So wie das Robert Kennedy in Paraphrase von George B. Shaw treffend formulierte: „Some men see things as they are, and ask why. I dream of things that never were, and ask why not.“

Das wär’ doch was, oder? Menschen, die Bilder einer erstrebenswerten Zukunft entwerfen und die BürgerInnen einladen, es gemeinsam mit ihnen mit Farbe und Leben zu füllen. Also: Politiker als Projektoren statt als Projektionsflächen für alles Mögliche. Und fürs Unmögliche schon überhaupt, täglich ein bissel mehr.

Falls jemand aus diesem Team anträte, hätte er (oder sie) auch gleich eine Story. Die beginnt vermutlich nicht mit „Es war einmal …“, sondern mit „Es wird einmal …“ Oder vielleicht mit „Was wäre, wenn …?“? Oder gar mit „Wäre es nicht großartig, wenn wir …?“? Keinesfalls beginnt sie aber mit „Ich“, dem Lieblingswort der notdürftig als Politiker verkleideten Selbsterfinder.

Was wäre, wenn? Hm …

Fragen oder Antworten?

In dieser Story ginge es nicht um die schnellen Antworten, sondern vor allem einmal um die richtigen, die not-wendigen Fragen. Und die Basisfrage lautet schon deshalb nicht, wer Kanzler werden soll, weil erstens das Parlament gewählt wird und nicht der Regierungschef und zweitens es auch gar nicht darum geht – sondern um die Frage, in welcher Welt wir leben wollen. Das hat nur am Rande mit dem Abtauschen von Interessen unterschiedlich starker (= wählerpotenzialhaltiger) Gruppen zu tun. Und auch nur sehr wenig mit dem Suchen nach den kleinsten gemeinsamen Nennern, die als größtes gemeinsames Vielfaches geframt werden, aber unterm Strich nichts anderes sind als ein Nullsummenspiel, dessen rote Zahlen die jeweiligen Beteiligten dann mit dem Argument abrunden, in einer Koalition würde man eben nicht allein regieren können. Yes, we can’t.

In dieser Story träte dann der deutsche Altbundespräsident Walter Scheel sel. als allegorische Figur der Weisheit auf. Er würde sich selbst zitieren mit den Worten: „Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen.“ Im selben Augenblick würde der Karaoke-Chor der berufsschwänzenden Ichlinge von der politischen Bildfläche verschwunden sein, weil endlich wieder Rock ’n’ Roll gespielt wird. Und zwar lustig, live & laut. Das klingt dann in etwa so, wie’s Marius Müller-Westernhagen in „Mit 18” beschreibt:

„Ich möcht zurück auf die Straße

Möcht wieder singen, nicht schön, sondern geil und laut

Denn Gold, Gold find' man bekanntlich im Dreck

Und Straßen sind aus Dreck gebaut“

Politik mit Politik als Kerngeschäft, eben.

Ja, das wäre, wenn. Das wäre doch großartig, wenn wir …

Früher einmal, in einer Zeit, die man nicht ganz zu Recht als die gute alte in Erinnerung hat, zog die Politik einmal den Rahmen auf, in den die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinwuchs. Hatte Geschichten von einem besseren Morgen, führte mit und in Story. Heute ist es – im besten Fall – umgekehrt. Häufiger hechelt die Politik der Realität hinterher, um mit reichlich Verspätung dem Was-ist ein geflickschustertes Gesetz dranzupicken. Wenn überhaupt.

Offenbarungseid?

Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre in Deutschland unter der euphemistischen Chiffre „Tierwohl“ das trübe Wasser des politischen Blablariums getreten wurde, damit die fürs Billigfleisch elendig geschundenen Viecher per gesetzlichen Restriktionen ein wenig weniger geschunden werden als üblich. Ich denke, da könnte man unabhängig von persönlichen Ernährungsgewohnheiten und Ideologie blitzschnell dafür sein, oder? War man aber nicht. Ausgerechnet der Diskonter Aldi brachte nun Bewegung in die Angelegenheit. Klar zu wenig und deutlich zu spät. Aber immerhin klar und deutlich genug, dass das als Offenbarungseid für die Politik taugt, zum Diskontpreis noch dazu. Ich mach mir keinerlei Illusionen: In den Aldi-Herzen erwachte nicht plötzlich ungezügelte Tierliebe, sondern man erwartet sich dort, mit diesem Move mehr Geschäft zu machen als ohne. Umgekehrt hätte man es nicht getan, wetten? Sei’s drum.

Was wäre, wenn wir dieses Modell nun weiterspinnen, weiterdenken und weitertragen? Wenn sich also Unternehmen, unternehmerische Menschen allerorten, ins Zeug legen und die richtigen Dinge tun? Dann aber ganz einfach deshalb, weil diese Dinge richtig sind und nicht, weil die Protagonisten dadurch mehr Profit erwarten. Das wär’ was! Das wäre nicht nur gut, sondern gut für etwas. Ein paar zusätzliche Gedanken und Anregungen gibt’s hier.

Was wäre, wenn wir den Spieß ganz einfach umdrehen und ausnahmsweise dieses eine Mal wenigstens Steve Jobs nicht das Wort reden, sondern ihm widersprechen? Und zwar dort, wo er selbst jenen applaudiert, die eine „Delle im Universum hinterlassen“ wollen. Was wäre, wenn wir uns einen Augenblick Zeit nehmen, uns und dem mittlerweile ziemlich verbeulten Universum eine kurze Verschnaufpause gönnen, sodann zu Werke schreiten und mit der nobelsten Aufgabe beginnen, die wir Menschen – und nur wir Menschen – als einzige Spezies auf Erden übernehmen können, nämlich die Dellen im Universum wieder auszubeulen? Da gäb’s ganz schön was zu tun für uns, und zwar ab sofort, nicht erst ab 2030, wenn’s dann bei Aldi (in manchen Sortimenten wenigstens) kein Billigfleisch mehr gibt.

Da hätten wir doch die Grundlage für sowas wie eine neue Geschichte, eine New Story, die für unsere ganze Gesellschaft, ja: für die gesamte Menschheit taugt. Wofür wir die brauchen? Weil die alte Geschichte ausgedient hat und außerdem zwar effektiv war, aber falsch, jedenfalls gründlich missverstanden. Die ewige Geschichte, die wir uns und einander erzählen, seit wir als Menschheit denken könn(t)en, „Gut gegen Böse – und das Gute muss gewinnen“, hat nämlich einen systemischen Fehler, der sich aber sowas von gewaschen hat: Die Guten sind in dieser Geschichte immer wir, die Bösen sind die Anderen. Allerdings sind wir in der Geschichte der Anderen nicht wir, sondern die Anderen, also die Bösen. Das Andere ist alles, was uns am Weg zum Gewinnen im Weg steht, folglich beherrscht, bezwungen und besiegt werden muss. Überwunden und dominiert, von uns, den Guten. Was wir dafür brauchen, das darf benutzt, ausgebeutet und verputzt werden. Alles dient als Ressource für unseren Gewinn, weil damit wir – also die Guten – gewinnen. Jeder gegen jeden.

Ungelebtes Leben?

Ich sag’s ungern, aber die Klimakrise scheint mir ein verdammt großer Schaden zu sein, um dann daraus nur bloß aus etwas klug zu werden, was wir sowieso längst wissen: Wir können die Natur nicht beherrschen. „Die Erde untertan machen” hat überhaupt nichts mit Beherrschen zu tun, sondern mit Behüten. Was wäre, wenn der Mensch sich nicht mehr als Beherrscher, sondern als Heiler versteht? Nicht als Trenner, sondern als Verbinder – auch von Wunden?

Immer mehr Menschen und Unternehmen scheinen hier langsam, hoffentlich nicht zu langsam, etwas zu begreifen und bald auch zu verstehen. Es steigt nämlich eine Unzufriedenheit in ihnen auf, ein oft noch undefiniertes Unwohlsein, obwohl ja eigentlich alles passt. Eigentlich. Ich staune oft, bei wem das geschieht; manchen hätte ich das niemals zugetraut.

Das, was nicht passt, das, was ihnen fehlt, das, was sich bei ihnen meldet – das ist das ungelebte Leben, oder wie’s in Buzzword-Kehlen vielstimmig gurgelt: der Purpose. Also das, was man vor kurzem noch als „Why” (vulgo „Das Warum”) gurgelte. Wir alten Leute sagen „Sinn“ dazu und legen dabei die Schwurhand auf das Werk von Viktor E. Frankl.

Buzzword hin oder her: darum geht’s. Ums große Anliegen, das jeder braucht. Im Lebenszyklus eines Menschen, eines Unternehmens, eines Teams oder einer Organisation lässt es sich zwar ziemlich lang und ziemlich prächtig im Materiellen leben. Das Streben nach Wachstum, nach Gewinn, nach dem im Haben messbaren Erfolg und nach dem Mehr-von-Allem ersetzen oder überdecken über weite Zeiträume das, was innen fehlt. Aber irgendwann ist es dann so weit, und das ungelebte Leben klopft an die Tür. Von innen. Spaßvogel, der es nun einmal ist, verkleidet es sich: als Midlife-Crisis, als Burnout, als Frust, als Alkoholproblem, als innere Kündigung, als Tinnitus, als Shoppingrausch, als Mitarbeiter-Abwanderung, als schlechte Stimmung, als Dienst nach Vorschrift, als Aggressivität, als kollektives Scheißegalsein … Sowas erwischt Menschen, Teams, Unternehmen, Gesellschaften.

Auch das sag ich ungern, nein: Ich sag’s sogar sehr gern: Es ist soweit, liebe Leute! Jetzt, wo unsere gesamtgesellschaftliche Story in sich zusammenbricht, dass die Fetzen nur so fliegen, jetzt stellt sich die Frage, wie wir leben wollen. Wie wollen wir sein? Wer wollen wir sein? Was ist unsere Story als Menschheit wirklich?

Wir brauchen eine neue Story, und ich hab’ dafür ein Angebot, eine Einladung, ein Stichwort dafür und gebe unumwunden zu, dass diese Story in Wirklichkeit uralt ist. Das Stichwort lautet: Verbundenheit. Wie ich drauf komme? Nun, unter anderem mit dem ältesten Trick aus dem Handbuch der Kreativitätstechniken, der da lautet: Wenn eine Sache nicht funktioniert, probier mal ihr Gegenteil! Ich glaube, wir sind uns einig, dass die Gegeneinander-Methode trotz vieler schöner Teilerfolge letztlich nicht wirklich funktioniert hat, oder? Alsdann: auf ins Gegenteil! Ab jetzt: Verbundenheit.

Auch hier dürfen wir uns schon über schöne Teilerfolge freuen. Und auf erwünschte Nebenwirkungen. Etwa, dass für alles, was PolitikerInnen betrifft, nahezu automatisch eine neue, eine große, eine bessere, eine echte Story bereitliegt, die sie in ihren Narrativen und Erzählungen, wie’s in deren Jargon heißt, teilen und so Bewegung in die Menschen sowie Menschen in Bewegung bringen können. Und zwar in Richtung einer besseren Zukunft, in der wir einander unterstützen statt bekämpfen; in eine Zukunft, in der wir gerne leben wollen und wollen, dass unsere Kinder und Enkel dort leben. Gut leben. Wir brauchen auch jemanden, der uns dort hinführt, mögliche Wege ausleuchtet.

Eine Zukunft des Ermöglichens anstatt der heutigen Gegenwart des Verhinderns; eine Zukunft der Kooperation, der wechselseitigen Unterstützung, des Verstehens, der Herzensbildung. In dieser Zukunft müssen wir das Sinn-Vakuum in uns, in unseren Unternehmen und in unserer Gesellschaft nicht mehr durch Konsum und durch materielles Wachstum, also über die Ausbeutung von Ressourcen, vergeblich zu stopfen versuchen. Dort entsteht der Sinn gleichsam von selbst.

Das geht unter Garantie nicht schnell. Dafür müssen wir unbedingt in Generationen denken, und an allen Orten braucht’s Gleichgesinnte. In der Bildung, in der Wirtschaft, in der Politik, vor allem in der sogenannten Zivilgesellschaft braucht’s Anführer, welche die richtigen Fragen stellen. Zum Beispiel: Was wäre, wenn ab sofort Kollaboration und nicht mehr Dominanz unser Zusammenleben bestimmt?

Bist du dabei? Eine ist das definitiv schon, nämlich meine Großmutter, die alte Story Dudette, die bereits ein neues Lieblings-T-Shirt hat. Auf dem steht: „New Story. New Glory.“

No Story. No.Glory

P.S.: Weitere Artikel rund um Storys & Brands findest du im Blog von Markus Gull.

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