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Zwischenruf: „Lasset uns ganz normal resignieren!“

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Erstellt von Markus Gull on 22/05/2020

Zwischenruf: „Lasset uns ganz normal resignieren!“

Morgens, wenn praktisch alle noch schlafen, mache ich mich auf und begrüße den Tag mit einer Laufrunde, die in Wien unter anderem durch den 7. Bezirk und mindestens einmal um den Ring führt. Am Sonntag auch, weil die Schlafforschung sagt, man soll an jedem Tag zur gleichen Uhrzeit aufstehen, und das ist bei mir eben ziemlich früh, wenn man die normalen Parameter anlegt.

Am verwichenen Sonntag deshalb auch, und es war das Meiste so, wie ich es zuletzt vor einigen Wochen erlebt hatte.  Wenn du am Sonntag nämlich diese genannte Strecke passierst, dann triffst du auf die Zeugnisse der Samstagnacht, die ja von vielen nur dann als eine geglückte bezeichnet werden kann, wenn jede Erinnerung daran gänzlich fehlt.

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Diese nach langem Shutdown endlich wieder einmal offene Samstagnacht – ohne Clubs und solche Sachen offene Samstagnacht – dürfte inhaltlich dort nahtlos angeschlossen haben, wo die so genannten Corona-Maßnahmen das normale Nachtleben ausknipsten. Die Gehsteige sind ganz normal und reichlich übersät mit Scherbenhaufen und Kotzpfützen, interessanterweise im rötlichem Farbspektrum gestaltet. Rotwein? Herzblut?

An einer Ecke steht eine kleine Gruppe von Hangover-Aspiranten und redet über irgendwas, und das zwar unverständlich, aber dennoch so laut, dass auch rundum sonst niemand schlafen kann.

Am Schwedenplatz hat ein orange panierter Systemrelevanter mehr als alle Hände voll damit zu tun, Müll von den Grasflächen zu entfernen. Aber niemand klatscht, was jeder vermutlich gut verstehen kann, weil der ja ab jetzt nicht mehr systemrelevant ist, sondern ein normaler Türk’, der halt seinen Job normal macht, ichbittdich, schließlich dafür bezahlt wird und froh sein soll, dass er überhaupt einen hat. Der soll bitte froh sein, dass er nicht in einer Media-Agentur arbeitet, weil ich sag’ nur: Dort sind Kurzarbeit und Homeoffice normal … 

Es geht wieder los, Baby! Welcome back! 

Alles wieder normal, hurra!

Mittlerweile hat auch das ungewohnt irritierende Lächeln seinen Platz in den Gesichtern Unbekannter geräumt, denn das ist der Stammplatz vom Grant, und diesen Platz hat der Grant jetzt wieder eingenommen, der Grant, der gute, der alte, den man nicht erst erkennt, wenn man kompliziert über die Mundschutz-Kante in die Augen der Menschen sieht, wie beim irritierenden Lächeln. Den Grant spürst du durch jeden Babyelefanten durch bis ins Mark, sogar von hinten.

Endlich wieder normal!

Suppen unterschiedlichster Rezeptur werden eingebrockt und anderen zum Auslöffeln rübergeschoben, jeder ist sich ab sofort wieder selbst der Nächste, und zwar ohne den Seelengesundheit-Sicherheitsabstand der Selbstreflexion wenigstens in der Größe einer Baby-Ameise einzuhalten. Wirtschaftliche Notwendigkeiten taugen zur Rechtfertigung für eh alles, was – koste es, was es wolle – Effekt verspricht, jetzt eben noch geschmeidiger als normal: #ichhabmircoronanichtgewünscht  

Jetzt also wieder Normalzustand, quasi. Neue Normalität, wie man das in vorauseilender Beschwichtigung vorsichtshalber rechtzeitig geframed hat. Man weiß ja schließlich nicht, was wieder kommt, was bleibt und was noch alles auf uns zukommt, und ob der Wunsch nach „alles so wie früher“ unter dem Begriff Normalzustand dann tatsächlich in Erfüllung geht. Dann hat man eben nicht zu viel versprochen, es gleich gesagt, bei der Auferstehungspredigt. 

Hm …

Normalzustand …

Neue Normalität ist offenbar, wenn wir so tun, als sei eh alles wie gestern, nur halt ab jetzt wieder und offiziell normal. Zwischendurch haben wir eben ein bissel streng gerochen im Homeoffice, und so schlimm war das mit dem Homeschooling dann ja auch wieder nicht, ganzehrlichgesagt …

Für einige von uns spielt’s „normal“ zwar sicher nicht, auch nicht in neu. Da sind Jobs weg und Einkommen und sonst auch noch jede Menge von dem, das früher ganz normal war und auch sein sollte, und das ist alles, aber sicher nicht normal. Aber was ist jetzt?

Braucht’s eine zweite Welle, oder eine dritte? 

Und wo ist in diesem ganzen Durcheinander plötzlich das #miteinand hinverschwunden?

Wo ist denn das allseits beliebte #gemeinsamschaffenwirdas geblieben?

Hat eigentlich jemand das #togetherwearstrong gesehen in letzter Zeit?

Ist das alles mit den alten Pullovern im Magic-Cleaning-Dreistufenplan entsorgt worden: in die Hand nehmen – macht mich nicht glücklich – weg damit?

In den vielen Gesprächen mit den Menschen in meinem Umfeld verständigen wir uns in einem Punkt in großer Einigkeit: Was nach den letzten Wochen an Lernwert und angewandtem Erfahrungsschatz übrig blieb, ist im Großen und Ganzen so groß wie das Einkommen vieler Menschen in diesen letzten Wochen: Null.

Jetzt geht’s wieder los! Und es geht ans Eingemachte.

Was wäre denn noch nötig? Die zweite Welle?

Hatten wir mit dem, was wir in diesen letzten Wochen hatten, wirklich nur ein Problem, das man jetzt halbwegs los ist?

Wie soll denn noch was gelingen von allem, was nicht normal, aber nötig wäre? 

Nur so zu Erinnerung am Rande der Fallzahl-Statistik vermerkt: Das Klima liegt noch immer in der Intensivstation und wird nur gesund, wenn wir alle miteinander verstehen, dass wir alle miteinander etwas verstehen müssen, etwas in der Substanz verändern und nicht nur so tun, als ob, und dann wieder normal weiter. 

Dafür steckten wir in den letzten Wochen im globalen Trainingscamp, und einige Augenblicke lang sah es so aus, als seien wir wirklich halbwegs matchfähig, wir vom Team Menschheit. Aber was machst du mit einem Elferschützen vorm leeren Tor, der den Ball nicht über die Latte knallt, sondern sich selbst ganz normal in die Eier und dann den Schlusspfiff mit Beifall verwechselt? Der Trainer würde ihm einen neuen Verein empfehlen, oder sich selbst einen suchen. Oder resignieren.

Ja, das Einzige, was angesichts dieses Zustandes jetzt normal wäre: Resignation! Und deshalb hier mein Zwischenruf: Lasst uns ganz normal resignieren! Jetzt, alle. Ja, zur kollektiven Resignation und volle Pulle zurück in alles, was normal ist. Vielleicht schaffen wir ja wenigstens das gemeinsam. Es gibt nämlich offenbar keine Hoffnung.

Aber dann denke ich an den Satz von Václav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal, wie es ausgeht.“

Ist das normal, Fräulein Flora?

Während man schamlosen Abkassierern in ihrer Fehlfunktion als Konzernlenker erklären muss, dass man nicht Dividenden auszahlen kann und gleichzeitig Staatshilfe beantragen, passiert auch ganz anderes. 

Auch solche Sachen kann man nämlich auf Instagram entdecken: In Salzburg gibt’s zum Beispiel Fräulein Flora – Salzburgs jungen Stadtblog. Die Betreiber, allen voran Eva & Matthias, sagen: „Wir machen uns die Stadt, wie sie uns gefällt!“ Sie machen das hinreißend und zeigen damit gleichzeitig, wie nah sich die Lebensentwürfe von Pippi Langstrumpf und Sisyphos  tatsächlich kommen können. Und sie machen noch etwas: Während Multi-Milliarden-Konzerne wie adidas, H&M, Deichmann, C&A, hunkemöller, pimkie, Galeria Karstadt Kaufhof etc. gleich ihre Mietzahlungen aussetzten und das als normal empfinden, sagt das standfeste Fräulein Flora dieses >> https://bit.ly/3e929nr

Als Salzburger Lokalmedium ist ein fixer Bestandteil unserer Einnahmen die Werbeschaltungen von lokalen Unternehmen. Seien es Ankündigungen von Veranstaltungen oder die Vorstellung von neuen Produkten, Neueröffnungen von Shops, Restaurants oder Services, die für euch, unsere Leser*innen, interessant sein könnten. Diese Kooperationen sind in den letzten Monaten nicht zustande gekommen. Trotzdem haben wir uns dazu entschlossen, den Härtefallfonds nicht zu beantragen. Wir waren und sind der Meinung, dass Fördergeld an die Unternehmer*innen gehen soll, die behördlich schließen mussten und somit ihre Einkommensgrundlage verlieren. Auf der anderen Seite haben wir auch niemanden gekündigt oder in Kurzarbeit geschickt. Es wurde kein Zwangsurlaub verhängt, weil: Was soll das für ein Urlaub sein, in dem man nirgends hinfahren kann und es in Salzburg auch recht ungemütlich ist? Genau jetzt, finden zumindest wir, müssen wir als Team zusammenhalten. Und nicht beim ersten Windstoß die Nerven verlieren …

Sowas kann man nach normalen Normen blöd finden, oder auch ungeschickt, aber eines ist es ganz bestimmt nicht nicht: normal, oder?

Im Gegenteil, und das ist gut so.

„Normal ist gefährlich“, werde ich nämlich nicht müde, allen jenen zu sagen, die es hören wollen, und noch lauter jenen, die es nicht hören wollen. Das, was wir als normal empfunden haben, war und ist hauptsächlich deswegen normal, weil es die meisten tun und damit zur statistischen Norm erheben. Aber normal im Sinne von natürlich, selbstverständlich, g’scheid und gehört so, oder gar gehört sich so? Dass, das, was wir in unseren Zivilisationen als Norm leben in diesem Sinne normal wäre, das glauben doch nicht einmal die, die’s verzapfen … Möglich ist es und praktisch, bequem und ertragreich, schlau vielleicht sogar, oftmals durchaus hilfreich und effektiv, aber: sinn-voll?

Straßenfeger mit Lernwert.

Die Menschheit – also wir – sitzt in ihrer globalisierten Verbundenheit erstmals in einem kollektiven Sturm, hat also erstmals eine gemeinsame Story, kann sich darin als Heldin bewähren und in ihre beste Version verwandeln, zu ihrem Besten. Wir haben einen gemeinsamen Gegner, Corona, und wie immer in mythologischen wahren Geschichten spiegelt diese antagonistische Kraft unser größtes Manko wie es gleichermaßen unser wirkungsvollster Lehrer ist. Sein könnte – im Unterrichtsfach: „Was du schon immer über dich selbst wissen hättest sollen, aber bis jetzt nicht wahrhaben wolltest“, das auch und vor allem im Homeschooling  zu bewältigen ist. Und wir hätten tatsächlich eine große Chance gehabt, nicht nur wieder normal zu werden und das mit einem Erfolg zu verwechseln, den wir zwar noch ewig abzahlen müssen, sondern besser zu werden. 

Und es wäre nicht leicht, aber ganz einfach geglückt, zumindest auf den Weg gekommen, hätten wir die unzähligen #miteinand-#gemeinsamschaffenwirdas-#togetherwearstrong-Postings nicht nur geliked und geshared, sondern auch verstanden.

Dafür musst du ja weder Verhaltensökonom noch New-Age-Guru sein, sondern nur eine Folge von „Raumschiff Enterprise“ gesehen haben, um das zu kapieren. Spätestens seit „Avengers“ wissen wir eindeutig, dass wir sogar die Chitauri besiegen und auch sonst jedes Ziel erreichen können, wenn wir unsere individuellen besonderen Fähigkeiten zusammenbringen und in eine Richtung steuern. Dafür müssten wir noch nicht einmal Freunde sein (auch wenn das besser wäre und spaßiger sowieso).

Warum das so wichtig ist? Weil es gegen die Klima-Krise definitiv keinen Impfstoff und keine App geben wird. Die Lösung ist allerdings längt erfunden, und darin kommen keine Superhelden vor, die alles wieder hinbiegen.

Der Straßenfeger „Corona – Episode COVID-19“ ist nämlich das Prequel zu einem Franchise, das man sich bei Marvelnicht besser ausdenken könnte. Die „Pandemie-Sammlerbox“ (Unlimited Edition) wird es in jeden Haushalt schaffen, und die Produktion von „Klima – Mutter Erde schlägt zurück“ läuft bereits auf Hochtouren.

Normal wie Charlie Harper?

In jeder dieser Geschichten gibt es immer wieder dasselbe Setting. Die Menschheit ist darin die Heldin, erlebt in ihrem scheinbar sicheren Hafen eine kollektive Bedrohung und kann diese nur meistern, wenn sie gemeinsam aufbricht, die Bedrohung gemeinsam meistert, gemeinsam daraus lernt und das Gelernte in ihrer alten Welt so anwendet, dass diese alte Welt nicht normal bleibt, sondern eine neue, eine bessere wird.

Wenn sich die Hauptfigur nicht ändert, dann hat man eine ganz andere Art von Story-Format, eine Sitcom zum Beispiel. Würde sich hier am Ende einer Episode der Haupt-Charakter ändern, wäre das Konzept kaputt. Würde Charlie Harper in „Two and a half Men“ plötzlich nicht mehr so sein, wie er das als normal empfindet, wäre Sendeschluss. In einer Sitcom ist das tatsächlich lustig, aber: Wollen wir wirklich Charlie Harper sein? Und nach 177 Folgen durch Ashton Kutcher ersetzt und am Ende von einem Klavier erschlagen werden? 

Ich will – und ich weiß –, dass Václav Havel recht hat. Und Jyn Erso in Star Wars: Rogue One „We have hope. Rebellions are built on hope.“ Wer so was starten kann? Fräulein Flora kann das. Fräulein Thurnberg kann das. Du kannst das, ich kann das. Jeder von uns hat in jeder Sekunde die Chance dazu, und wenn diese Chance auch nur ein Promille groß ist: sie ist da. Womit ich genug dazwischengerufen hätte.

So drehe ich an dieser Stelle eine schnelle morgendliche Lauf-Runde um den Verzweiflungsbrunnen und stoße dabei aus geblähten Nüstern als fleischgewordene Gebetsmühle einmal mehr das Margaret Meadsche Mantra aus: „Never doubt that a small group of thoughtful, committed citizens can change the world; indeed, it’s the only thing that ever has.“

Niemand soll uns dabei aufhalten.

Niemand soll uns daran hindern, täglich ein wenig klüger zu werden. Unsere Werte in unserer Story helfen uns dabei, denn sie geben uns Orientierung, bringen Ordnung ins Leben und auch in sonst alles, denn Charakter beweist sich vor, in und nach der Krise, so oder so.

Meine Großmutter, die alte Story Dudette, würde nun das dazwischenrufen, was sie Charlie Harper ins Ohr raunte, als sie von ihrer morgendlichen Laufrunde zurück ins Beverly Hills Hotel kam und ihn dort in der Polo Lounge unter einer Bordsteinschwalbe fand: „No Story. No Glory.“

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P.S.: Weitere Artikel rund um Storys & Brands findest du im Blog von Markus Gull.

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