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Redaktion 11.10.2024

Ein anderes Gespür für Blau

Wenn die Sprache den Blick auf die Welt prägt. Ein Ausflug ins Farbspektrum.

Leitartikel ••• Von Sabine Bretschneider

SCHATTIERUNGEN. Im Russischen gibt es kein Wort für „Blau”. Russen unterscheiden in ihrer Muttersprache nicht nur zwischen Hellblau und Dunkelblau, sondern verwenden dafür zwei verschiedene Farbbezeichnungen. Viele Völker in tropischen Regionen unterscheiden sprachlich nicht zwischen Blau und Grün; in altgriechischen Texten herrscht, zumindest aus heutiger Betrachtung, völlige Verwirrung in der Beschreibung von Farbgebung, und auch Altchinesisch unterscheidet in vielen Fällen nicht nach „modernen” Kriterien zwischen Grün, Blau, Violett und Schwarz. Die hübsche Geschichte, dass Inuit vierzig Wörter für Schnee kennen („Fräulein Smillas Gespür für Schnee”), würde sich hier ergänzend gut einfügen, stimmt allerdings leider nicht.

Das ist, für sich betrachtet, jetzt vielleicht nicht allzu spektakulär, gilt aber als integraler Bestandteil einer schon Jahrzehnte andauernden Diskussion, in welchem Maße Sprache die Weltsicht färbt. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt”, postulierte der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Dass sich daraus ein ganzer Zweig der Linguistik entwickeln würde, war nicht absehbar.

Der legendären Sapir-Whorf-Hypothese zufolge erkennen Menschen nur das, was sie in ihrer Sprache ausdrücken können. Auch die Kritik an dieser Aussage füllt Bücher. Nicht zuletzt entspringt aber auch die heutige Diskussion zu genderneutraler Sprache genau dieser These. An dieser Stelle kann man – insbesondere hinsichtlich der Unterscheidung von Hellblau und Dunkelblau – die Diskussion über das eigentliche Thema hinaus ausdehnen. Was darf man daraus schließen, dass die Partei, die als Gewinner aus den Nationalratswahlen hervorging, Begriffen wie „Volksverräter” und „Systemparteien” eine Renaissance beschert? Was ist, wenn Sprache dermaßen „entgrenzt” wird, wie färbt sie den Blick auf die Welt? „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist”, um ein vielgenutztes Zitat aus diesem Eck wieder einmal ins Rampenlicht zu rücken.

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