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© Martina Berger

Harald Gutschi

Redaktion 16.02.2024

"Bin für Globalisierung, aber nicht auf diese Art"

Unito-Chef und Handelsverband-Vizepräsident Harald Gutschi stößt sich an chinesischen „Schrott”-Anbietern, ist aber generell zuversichtlich.

••• Von Oliver Jonke und Georg Sohler

Der Online-Handel war in den Pandemiejahren 2020 bis 2022 „systemrelevant”. Das Folgejahr 2023 war aus Sicht von Unito/Otto Group-CEO Harald Gutschi „okay”, für 2024 ist er vorsichtig optimistisch. Dem eCommerce insgesamt droht jedoch Ungemach, drängen doch vermehrt chinesische Billigstanbieter auf den Markt. Mit diesen beziehungsweise der mangelnden Regulierung hat Gutschi ein großes Problem, wie er im Interview mit media­net-Herausgeber Oliver Jonke erklärt.


medianet:
Wie lautet zunächst Ihre Bilanz zum Jahr 2023?
Harald Gutschi: Das Jahr war okay. Hierzulande wurden im eCommerce inflationsbereinigt 8,6 Prozent weniger Umsatz gemacht, der gesamte Handel verbuchte nur ein Minus von 3,6 Prozent. Allerdings braucht es eine Relativierung: Während der Hochphase der Pandemie inklusive Lockdowns wurde der Online-Handel systemrelevant, wir hatten in Teilbereichen Wachstumsraten von über 100 Prozent. Auf diese zwei paradiesischen Jahre folgten zwei teuflische. Aber: Wir verlieren zwar Umsätze, gewinnen aber in einem rückläufigen Markt Marktanteile in den für uns relevanten Sortimenten. Das klingt paradox, aber es ist uns gelungen, Kosten zu reduzieren, etwa bei Versand oder Werbung. Das größte Problem ist, dass die durchschnittlichen Umsätze pro Kunde 2023 um fünf Prozent zurückgegangen sind. Was die Inflation an Mehrkosten verursacht, fließt in gestiegene Energie-, Miet- oder Zinskosten.

medianet: Worauf sind die fünf Prozent weniger Umsatz pro Kunde zurückzuführen?
Gutschi: Wir haben unsere Preise nicht gesenkt, nur wo es unumgänglich war, wurde unterhalb der Inflation erhöht. Die Kunden haben früher 2,5 Warenstücke pro Bestellung gekauft, nun sind es 2,2 – ihnen fällt das oft nicht auf.

medianet: Dabei waren die Prognosen Anfang des Jahres nicht gut, es sollte sich erst im zweiten Halbjahr verbessern.
Gutschi: Der Jahresanfang war katastrophal, die Inflation hat voll durchgeschlagen. Juli und August waren deutlich über dem Vorjahr 2022, der wärmste September aller Zeiten sowie die zwei ebenfalls viel zu warmen Oktoberwochen führten dazu, dass wir sehr wenig Herbst-/Winterware im Textilbereich verkauft haben – dafür noch Bademode! Wenn wir diese sechs Wochen außen vor lassen, läuft das Geschäft fast normal.

medianet: Interessant, wie stark sich die klimatischen Veränderungen direkt auf das Unternehmensergebnis auswirken …
Gutschi: Das ist enorm. Bei 30 Grad kauft niemand Pullover und Jacken. Aber seit Mitte Oktober ist die Krise im Online-Handel vorbei. Das Vertrauen kommt langsam zurück, vor allem die Technikprodukte laufen hervorragend, da waren wir zweistellig über dem Vorjahr. Textil ist okay, Schwierigkeiten gibt es bei Möbeln.

medianet:
Viele haben durch die Schließungen Investitionen in den eigenen vier Wänden vorgezogen.
Gutschi: 2020 hatten wir hierbei eine Steigerung von fast 100 Prozent. Teilt man das auf die Folgejahre auf, liegen wir im Schnitt noch immer bei plus 15 Prozent pro Jahr. Der Rückgang ist eigentlich logisch. Allerdings wird es bei Möbeln weiterhin schwierig bleiben. 2023 wurden um 50 Prozent weniger Wohnungen verkauft, der mehrgeschoßige Neubau reduzierte sich um bis zu 70 Prozent. Das hinterlässt Spuren. Laut Untersuchungen im Küchensegment ergibt eine verkaufte Wohnung im Schnitt 2,6 Küchen. Der, der neu einzieht, braucht eine, aber auch der, der auszieht. Dieses Phänomen merken wir nun auch im Möbelgeschäft. Wir werden die Talsohle 2024 aber erreichen.

medianet:
Blicken wir in die Zukunft. Was erwarten Sie allgemein vom Jahr 2024?
Gutschi: Die Einkommen steigen signifikant, im Schnitt um neun Prozent. Bei vermutlich knapp vier Prozent Inflation legt die Kaufkraft real um fünf Prozent zu, das wird sich in drei bis vier Monaten auf den Konten bemerkbar machen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals derartige Gehaltssteigerungen hatten, und ein Teil dieses Zuwachses wird in den Handel gehen. Ich bin also vorsichtig optimistisch, allerdings kann man bei all den Krisen der letzten Jahre gar nicht sagen, was auf uns zukommt.

medianet:
Wie sieht es konkret für Unito aus?
Gutschi: Ab Mai/Juni erwarten wir eben ein gutes Jahr. Ein früher Indikator dafür ist, dass die Durchschnittsumsätze pro Kunde in 2024 schon wieder auf Vorjahresniveau sind.

medianet:
Also ein Licht am Ende des Tunnels – und es ist kein entgegenkommender Zug?
Gutschi: Ich denke, wir haben den Tunnel schon wieder verlassen. Aber ein Einkauf braucht Vertrauen, da steckt so viel Psychologie dahinter. Die Menschen sehen jedoch, dass sich die Welt allen Krisen zum Trotz weiterdreht.

medianet: Obwohl die Mittelschicht weniger betroffen war, wurde gespart. Die wahrgenommene Kaufkraft unterscheidet sich offenbar von der tatsächlichen …
Gutschi: Die österreichische ­Regierung hat in Summe rund 45 Mrd. Euro in die Bekämpfung der Inflation bzw. den Erhalt der Kaufkraft investiert. Das hat sich ausgezahlt.

medianet:
Floss das in den Handel?
Gutschi: Nein, leider nicht. Das Geld wurde für die Lebenshaltungskosten ausgegeben, der Rest für Freizeit und Urlaub. 2023 sind Konsumausgaben für Urlaube noch immer um 25 Prozent gestiegen. Es gibt noch immer die Corona-Nachholeffekte.

medianet:
Also das ‚geschenkte' Geld wurde demzufolge sofort ausgeben?
Gutschi: Dass sich einzelne schwer getan haben bzw. tun, möchte ich keinesfalls bestreiten. Wer es sich leisten konnte, gab sein verfügbares Ein­kommen für Freizeit aus. 2024 wird das noch steigen, aber eher um zehn Prozent oder darunter. Ein Teil der Reallohnsteigerung wird aber schon im Handel ankommen.

 

medianet: Es gibt noch einen wichtigen Faktor – es drängen chinesische Player auf den Onlinehandel-Markt, die sehr aggressiv auftreten. Spürt das der heimische eCommerce?
Gutschi: Shein macht 30 Mrd. US-Dollar Umsatz im Jahr. Bei Temu, zur an der Nasdaq gelisteten PDD Holding mit einer Umsatzrendite von 21,5 Prozent gehörend, sprechen wir von angeblich 16 Mrd. US-Dollar. Das ist unfassbar. Eigentlich sind sie Plattformpartner. Sie haben einen direkten Zugang zu den chinesischen Lieferanten. Die Konsumenten können die Produkte zu chinesischen Preisen und Qualitäten kaufen.

medianet:
Wie schätzen Sie diese ein?
Gutschi: Das muss jeder selber beurteilen. Mit zweifelhafter Qualität, aber mit einem sehr aggressiven Preis wollen sie Marktanteile gewinnen, weil der heimische Markt nicht mehr so stark wächst. Es gab schon Spitzentage mit einer Mio. gelieferten EU-Paketen pro Tag. 200.000 Pakete sollen alleine nach Deutschland gehen, ich schätze, dass 20.000 bis 30.000 Pakete pro Tag bei uns ankommen.

medianet:
Bis vor wenigen Jahren war es ja gang und gäbe, dass die Pakete vom Wert her nicht richtig deklariert wurden, damit sich der Versender Abgaben spart. Wie ist die Lage jetzt?
Gutschi: Das ist für mich überhaupt eine paradoxe Situation. Gemäß einer Studie der EU ist Österreich nach Frankreich im Handel das am zweitstärksten regulierte EU-Land. Wenn ich denke, wie viele Menschen wir brauchen, um Compliance einzuhalten – ISO-Officer, Datenschutzbeauftragte, Qualitätskontrolle, rechtliche Absicherung –, ist das unfassbar. Da geht es um Verpackungsverordnungen, Lieferkettengesetz, etc. und es kommt ständig etwas Neues, es wird alles auf Herz und Nieren geprüft. Die Strafen sind sehr hoch, mit bis zu vier Prozent des Gesamtkonzernumsatzes. Für chinesische Anbieter gelten diese strengen Regulierungen nicht oder nur eingeschränkt, viele halten sich nicht daran oder deklarieren noch immer falsch. Ein haarsträubendes Beispiel: Laut TV-Berichten haben Kunden bei chinesischen Anbietern technische Produkte ohne europäisches Prüfzertifikat gekauft, die dürfen gar nicht eingeführt werden. Auf YouTube kann man sich die Videos von Kunden ansehen, wie Menschen Ausschläge nach dem Tragen der gesundheitsschädlichen Kleidung bekommen. Das können Einzelfälle sein, als Außenstehender sage ich: Wir sind überreguliert, chinesische Anbieter halten sich nicht an alle EU-Vorschriften. Aber wer überprüft eine Mio. Pakete pro Tag?

medianet:
Und eingeflogen wird über Ungarn?
Gutschi: Ja, und in Zeiten wie diesen eine CO2-Katastrophe. Temu kassiert eine Provision von den Herstellern, nach Ungarn wird geliefert und auch verzollt. Für Zielländer ist das ein schönes Geschäftsmodell: Es gibt Gebühren für die landenden Flugzeuge, die Verzollung, Einnahmen wegen der Lagerhäuser und der gesamten Logistikkette. Durch den freien Warenverkehr wird nur das Eintrittsgate in die EU kontrolliert, dann nicht mehr. Die EU-Einfuhr-Vorschriften in Ungarn können mehr oder weniger streng ausgelegt werden, ein Durchwinken ohne strenge Kontrollen ist möglich. Für uns ist das ein Problem. Ich wehre mich nicht gegen den Wettbewerb, mehr davon hilft immer. Allerdings braucht es einen fairen eCommerce und keinen Schrottcommerce. Wenn wir nur Waren nach europäischen Standards importieren dürfen und Zoll zahlen müssen, muss das auch für Temu gelten. Sonst ist das nicht fair. Sie sind so gut wie überall, wo sie vertreten sind, die meistheruntergeladene Shopping-App. Mancherorts sogar auch im Vergleich zu allen Apps.

medianet:
Am Ende entscheiden es dann aber die Kunden selber.
Gutschi: Bei Wish war es so, dass sie ebenfalls die meistheruntergeladene Shopping-App waren – und zwei Jahre später war Wish de facto tot. Und was erwartet man sich von einer Jeans um fünf Euro? Retouren zahlen sich meistens gar nicht aus. Das ist eine Form von Schrottcommerce. Bei Temu bekommt man um 50 Euro zehn Artikel, mit extremen Rabatten. Es fließen Milliarden in die EU, um Neukunden zu gewinnen. Wir werden 2024 so viele Pakete aus China erleben wie noch nie. Das ist eine Veränderung, die es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gab. Die positive Seite aber ist, dass Kunden einen Zugang zu chinesischen Produkten bekommen. Viele werden das ausprobieren, aber sich überlegen, ob das ein gutes Geschäftsmodell für sie ist. Aufgrund der Milliarden-Investments, denke ich, machen die chinesischen Anbieter aktuell sehr hohe Verluste, um Marktanteile zu gewinnen. 2025 gibt es also entweder einen Riesenerfolg für Temu – oder eine Implosion. Beispielsweise in den USA, wo Temu ein Jahr früher als in der EU gestartet ist, sind die App-Downloads schon wieder rückläufig.

medianet:
Stehen die Firmen in direkter Konkurrenz zu Unito?
Gutschi: Wir sind nicht so stark betroffen, weil wir viel weiße Ware haben; auch bei Möbeln gibt es das Problem nicht. Bei Textilien ist es so, dass wir Marken haben, Temu nicht. Wenn, sind das oft Fälschungen. Aber alle glauben immer, dass das den Online-Handel betrifft, es geht auch um den stationären Handel. Bei Temu sind manche Produkte billiger als beim Discounter, Eigenmarken sind betroffen.

medianet:
Hinzu kommen datenschutzrechtliche Probleme …
Gutschi: Manche Experten lesen aus dem Quellcode, dass die App ständig Screenshots macht und automatisch weitere Apps reinlädt, was Temu bestreitet. Aber wer den Firmensitz in der EU hat, unterliegt EU-Recht, und diese Plattformen sind in vielfacher Hinsicht nicht damit vereinbar. Darum müssen wir auch in den Medien viel darüber sprechen, da die Probleme in der Politik noch nicht angekommen sind. Brüssel diskutiert über noch schärfere Regulierungen und registriert nicht einmal, wie sehr wir den Planeten mit diesen unfassbar vielen Transportflügen kaputt machen. Das gehört einfach anders organisiert – und wenn es eine Kerosin-Besteuerung für Frachtflüge ist. Als österreichischer Händler schaut man sich die de facto Nicht-Kontrolle bei chinesischen Anbietern fassungslos an.

medianet:
Ihr Lösungsansatz?
Gutschi: Man müsste bestehende Zollvorgaben rigoros einhalten und ab dem ersten Euro verzollen. Für Zollbetrug braucht es härtere Strafen und Ressourcen. Dann gibt es halbwegs fairen Wettbewerb. Ich bin für Globalisierung, aber nicht so.

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