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©Thomas Topf

Redaktion 11.05.2021

Verwenden statt Verschwenden

Die Wiener Tafel fordert: Lebensmittelweitergabe muss neu bewertet werden.

WIEN. Am 6. Mai fand die Jahrestagung 2021 des Verbandes der Ernährungswissenschaften Österreichs (VEÖ) unter dem Motto „Essen im Wandel – Change for the better“ statt. Ernährungs-Experten beschäftigten sich in dem digitalen Tagungsformat mit den drängenden Zusammenhängen von Klimawandel, Pandemie, Ernährungssystemen und der Zukunft des Essens.

Essensweitergabe muss neu bewertet werden
Rund ein Drittel aller Lebensmittel wandert weltweit in den Müll. In Österreich entspricht das etwa 1.000.000 t. Gleichzeitig gab es bereits vor der Covid-19-Krise 483.000 Menschen in Österreich, die von Ernährungsunsicherheit betroffen waren. Die Pandemie hat die Situation noch verschärft. Daneben wird die Lebensmittelwirtschaft immer stärker von der EU reguliert. Deshalb stellte Andreas Schmölzer, Sachverständiger für Lebensmittelhygiene und Ernährungsforschung, Lektor für Lebensmittelrecht und
erster Vorsitzender VEÖ in seinem Vortrag die berechtigte Frage: „Containern, Food Sharing, Spenden – Haben wir rechtlich und gesellschaftlich Platz dafür?“

Denn das Lebensmittelrecht wird aktuell so ausgelegt, dass alle, die „eine mit der Produktion, der Verarbeitung und dem Vertrieb von Lebensmitteln zusammenhängende Tätigkeit ausführen“, als „Lebensmittelunternehmen“ angesehen werden, gleichgültig, ob sie auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind oder nicht und ob sie öffentlich oder privat sind. Damit werden z.B. NGOs im selben Ausmaß wie kommerzielle Wirtschaftsunternehmen dazu verpflichtet, alle lebensmittelrechtlichen Bestimmungen wie Sicherheit, Hygiene, Vermarktungsnormen und Produktregelungen, Eigenkontrolle und auch Kennzeichnung und Information zu beachten, zu überprüfen und einzuhalten. Es werden hier also gewinnorientierte Marktteilnehmer in denselben Topf geworfen, wie gemeinnützige Wohlfahrtseinrichtungen. Beispiele in der Praxis: Das Lebensmittelrecht fordert Informationen über Allergene ein, die sich auf der Verpackung finden. Werden nun aber offene Lebensmittel wie z.B. Brot und Gebäck gespendet, ist vor der Weitergabe an Bedürftige durch z.B. die Wiener Tafel eine Liste mit Allergenen zu erstellen und zu überprüfen, andernfalls muss entsorgt werden. Ähnlich drastisch ist es bei Obst und Gemüse. Hier darf nur verkaufsfähige Ware weitergegeben werden, Kartoffel mit Zwiewuchs oder Kindelbildung gelten als missgestaltet. Auch verpackte Ware mit Druckfehlern ist von der Weitergabe ausgeschlossen.

Deshalb fordert Alexandra Gruber, Geschäftsführerin Wiener Tafel und Obfrau des Verbandes der österreichischen Tafeln: „Die Weitergabe von Lebensmitteln muss gesellschaftlich und rechtlich neu bewertet werden. Durch die zunehmende Bedeutung von Lebensmittelverlusten ('Food Loss') und Lebensmittelabfall ('Food Waste') auf der Seite der Nachhaltigkeit, und Lebensmittelspenden auf der Seite der Humanität hat sich auch die Bedeutung der Tafeln und anderer Strukturen zur Lebensmittelweitergabe deutlich vergrößert." Das heißt, um auch weiterhin rund 16.000 armutsbetroffene Menschen in rund 90 Sozialeinrichtungen mit 566.685 kg geretteten Lebensmitteln (Wiener Tafel Jahresergebnis 2020) zu versorgen, ist es notwendig, das Spenden und Verschenken von Lebensmitteln einfacher statt komplizierter zu machen. Die gemeinnützige Lebensmittelwohlfahrt muss rechtlich endlich mit Privatpersonen statt mit Großunternehmen gleichgesetzt werden. Wie einfach das in der Praxis gehen kann, zeigt der Blick in unser Nachbarland Italien. Hier wurde mit dem „Gesetz des Guten Samariters“ („Good Samaritan Law“) schon vor beinahe 20 Jahren die „Privatheit für gemeinnützige Organisationen“ wie z.B. Tafeln durch Gleichstellung mit Endkonsument gesetzlich festgeschrieben. Denn ohne die Arbeit der Tafeln wird nicht nur Essen vernichtet, es steigt auch die Auswirkung der Armut. Andreas Schmölzer: „Es kann nicht sein, dass durch den zunehmenden Kommerzialisierungszwang beim Essen wegen kommerzieller Maßstäbe das Teilen, Herschenken, Spenden und Helfen immer komplizierter und noch teuer wird als das Wegwerfen und Vernichten. Hier muss wieder 'privatisiert' werden, für das Klima und für die Menschen, die Hilfe brauchen."

Wiener Tafel Sensorik Labor:  So lernt man den richtigen Umgang mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD)
In der Pause der VEÖ-Jahrestagung 2021 konnten die Tagungsteilnehmenden und Vertreter der Presse das Wiener Tafel Sensorik Labor online live erfahren. In dem bewährten Bildungsformat der Wiener Tafel konnte man die spannende Welt der Lebensmittel selbst kennenlernen. Den Teilnehmenden wurde von Projektleiterin Monika Heis und Profiköchin Petra Gruber erklärt, wie man mithilfe der eigenen Sinne lernen kann, die Qualität von Lebensmitteln einzuschätzen und so Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken. Denn in privaten Haushalten werden nach wie vor täglich tonnenweise einwandfreie Lebensmittel weggeworfen. Oft schaut man nur auf das Mindesthaltbarkeitsdatum und wirft, wenn es überschritten ist, das Lebensmittel dann einfach weg. Das Mindesthaltbarkeitsdatum sagt aber nichts über den tatsächlichen Zustand eines Lebensmittels aus. Stattdessen kann man durch Schauen, Fühlen, Hören, Riechen und Schmecken wichtige Informationen über unsere Nahrung bekommen. Über Jahrmillionen entwickelt, ermöglicht uns diese Sensorik zu prüfen: Ist ein Lebensmittel einwandfrei, verdaulich, frisch, verträglich und nahrhaft? So kann man überprüfen, ob das Lebensmittel noch genießbar ist. Im Anschluss an das Wiener Tafel Sensorik Labor standen die Projektleiterin Monika Heis und Profköchin Petra Gruber von der Wiener Tafel, sowie  Elisabeth Höld und Veronika Macek-Strokosch vom VEÖ für die Fragen der Teilnehmenden zur Verfügung. (red)

www.wienertafel.at

 

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