••• Von Paul Christian Jezek
ZÜRICH/WIEN. 1993 suchten die beiden Grafikdesigner Daniel und Markus Freitag nach einer funktionellen, wasserabweisenden und robusten Tasche für ihre Entwürfe. Inspiriert vom bunten Schwerverkehr, der täglich an ihrer Wohnung vorbei über die Zürcher Transitachse brummte, entwickelten sie einen Messenger Bag aus gebrauchten Lkw-Planen, ausrangierten Fahrradschläuchen und Autogurten. So entstanden im Wohnzimmer der WG die ersten Freitag-Taschen – jede rezykliert, jede ein Unikat.
Damit lösten die Brüder eine neue Welle in der Taschenwelt aus, die von Zürich aus über die europäischen Städte bis nach Asien schwappte und Freitag zum inoffiziellen Ausrüster aller urbanen, Fahrrad fahrenden Individualisten machte. Die Produkte gibt es in inzwischen 26 Stores und bei mehr als 300 Verkaufspartnern weltweit, und im Freitag Online Store warten etwa 4.000 verschiedene Unikate darauf, ausgewählt zu werden. Seit 1993 ist Freitag kontinuierlich und insgesamt gesund von einem Zweimann-Betrieb zu einem gar nicht mehr „kleinen” KMU mit rund 200 Mitarbeitern gewachsen. Je mehr Modelle entwickelt, je mehr Märkte erobert, je mehr Taschen verkauft wurden, desto mehr nahm die Komplexität zu. Das einstige Studenten-Start-up war bald ganz klassisch organisiert, mit CEO, Geschäftsleitung und Abteilungen, die sich entlang des Fertigungsprozesses formierten. Die Folge: Die Organisationsstruktur und viele Abläufe wurden umständlich, und während sich das Marktumfeld zunehmend schnell veränderte, war die Anpassungsfähigkeit geschrumpft.
Das Beta-Modell
Daniel und Markus Freitag veränderten die Organisation ihres Unternehmens radikal: Weg von hierarchisch organisierten Abteilungen, die wie eine Maschine auf die Verrichtung der immer gleichen Arbeit getrimmt sind, hin zu einem Aufbau nach dem Vorbild einer Stadt, mit funktionalen, beherzt geführten und selbstorganisierten Zellen. Das klassische Organigramm wurde durch ein Stadtbild abgelöst, und um den Flaschenhals der Geschäftsleitung zu eliminieren, wurde dieselbe kurzerhand abgeschafft. An ihre Stelle traten selbstorganisierte Zellen – im Stadtbild wurden sie zu Gebäuden – und eine Meeting-Struktur, um alle wichtigen Stakeholder eines Themas in den Entscheidungsprozess einzubinden. Die Rolle eines weisungsbefugten CEOs wurde damit überflüssig und die ehemaligen Mitglieder der Geschäftsleitung verstanden sich fortan nicht mehr als Chefs, sondern als Coaches.
Das neue Organisationsmodell wurde schlicht „Beta” getauft. Ein unternehmensweiter Vorgehensplan wurde zum zentralen Steuerungselement. Auf der Suche nach organisatorischen Wegen, um Autorität zu verteilen, Entscheidungsprozesse zu vereinfachen, Hierarchien abzubauen und die Agilität zu erhöhen, stieß man auf Holacracy, das im September 2016 als organisatorisches Betriebssystem bei Freitag eingeführt wurde. Die Organisationsstruktur ist nicht starr, sondern alle Mitarbeitenden können sie mittels klarer Prozesse fortwährend den Bedürfnissen anpassen; strukturierte Meetings sorgen für eine regelmäßige, effiziente Synchronisation der voneinander abhängigen Rollen.
Mal steinig, mal blumig
Dass es keine persönlichen Vorgesetzten oder Chefs mehr gibt, heißt aber nicht, dass keine Hierarchie existiert, im Gegenteil: Holacracy ist stark hierarchisch, aber konsequent aus fachlichen Rollen heraus.
Die Hierarchie ist also über das ganze Unternehmen verteilt, alle Beteiligten können sie jederzeit über den Governance- Prozess verändern. Der Stand des Freitag-Organigramms vom 20.3., morgens, sieht also vielleicht heute Abend schon ganz anders aus! „Der Entscheid, auf Holacracy zu setzen, scheint uns auch aus heutiger Sicht richtig”, sagen die Freitag-Mitarbeiter.
„Die Transformation ist für uns heute ein Weg, der mal steinig, mal blumig ist, aber immer weiterführt. Die einst proklamierten, ‚funktionalen, beherzt geführten und selbstorganisierten Zellen' sind Wirklichkeit geworden …”