HEALTH ECONOMY
© Iraqi Red Crescent Society

Redaktion 10.09.2015

„Was geschehen ist, war historisch“

Rot-Kreuz-General Werner Kerschbaum lobt im medianet-Interview die Zivilgesellschaft und ortet eine „zurückhaltende“ Politik.

••• Von Martin Rümmele

Die jüngsten Entwicklungen um Flüchtlinge, die aus dem arabischen Raum nach Europa drängen, haben in den vergangenen Tagen die Medien beherrscht. medianet sprach deshalb mit dem Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes über die Hintergründe und Herausforderungen, aber auch über die heimische Gesundheitspolitik generell.

medianet: Wie beurteilen Sie die jüngsten Entwicklungen im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingswelle?
Werner Kerschbaum: Was sich am vergangenen Wochenende an der ungarisch/österreichischen Grenze in und um Nickelsdorf und am Westbahnhof ereignet hat, verdient vermutlich das Prädikat ‚historisch‘. Es ist beeindruckend und motivierend zugleich, zu sehen, was binnen kurzer Zeit an selbstorganisierter Hilfe von Menschen in Österreich für Menschen auf der Flucht auf die Beine gestellt werden kann. Diese Hilfe zeigt deutlich, was in diesem Land bewegt werden kann, wenn eine bevorstehende Situation nicht verdrängt, sondern als Herausforderung akzeptiert wird. Die Zivilgesellschaft, die Behörden und die NGOs haben wirkungsvoll zusammengearbeitet, um die beste Lösung zu finden und eine außergewöhnliche Situation zu meistern. Es hat aber auch deutlich aufgezeigt, wie unentschlossen die europäische Politik derzeit im Vergleich zur Zivilgesellschaft ist.

medianet: Was macht das Rote Kreuz und wie geht man mit den Herausforderungen um?
Kerschbaum: In Abstimmung mit dem Innenministerium unterstützt das Österreichische Rote Kreuz die aus Ungarn ankommenden Flüchtlinge an der Grenze im Burgenland. Rotkreuz-Einheiten aus dem Burgenland, aus Niederösterreich und auch Wien helfen vor Ort. Flüchtlinge werden medizinisch versorgt, Essen und warme Getränke werden ihnen angeboten, und auch für den psychosozialen Support ist gesorgt. Im Bereich der humanitären Assistenzleistung für aufgegriffene Flüchtlinge und Flüchtlinge auf der Durchreise ist das Rote Kreuz rund um die Uhr im Einsatz. Am vergangenen Wochenende, 5.9. und 6.9., waren insgesamt 1.400 freiwillige Rotkreuz-Helfer im Einsatz, um Flüchtlingen zu helfen. Täglich sind es rund 300 Freiwillige, die sich in den Dienst des humanitären Auftrags des Roten Kreuzes stellen. Seit Tagen ist das Österreichische Rote Kreuz auch in engem Kontakt zu den Rotkreuz-Kollegen in Ungarn und in Deutschland, um den betroffenen Menschen rasch und effizient beizustehen.

medianet: Von welchen künftigen Entwicklungen gehen Sie aus?
Kerschbaum: Die Situation ist derzeit sehr volatil, deshalb ist weiterhin mit einem gesteigerten Aufkommen von durch Österreich nach Deutschland reisenden Flüchtlingen zu rechnen; das Österreichische Rote Kreuz ist dafür gerüstet.

medianet: Wenn Unternehmen – wie die medianet-Leser – sich in der Sache engagieren wollen, was sollen sie tun beziehungsweise was gibt es zu bedenken?
Kerschbaum: Das Österreichische Rote Kreuz ist für Geldspenden sehr dankbar. Mit dem Spendengeld kaufen wir einerseits Willkommenspakete, die zwischen 25 bis 65 Euro kosten, und andererseits investieren wir in die Integration von Asylberechtigten. Derzeit ist die Erstversorgung und die Unterbringung in festen Quartieren noch vor dem Wintereinbruch das Gebot der Stunde. Aber man muss jetzt schon langfristig denken. Anerkannten Flüchtlingen müssen wir die Chance geben, sich zu integrieren; das heißt, die Landessprache zu lernen, Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt zu haben und für die Kinder auch den Zugang zum Bildungssystem. Zu bedenken gibt es wenig, außer, dass wir bitten, derzeit von Sachspenden abzusehen. Wenn man sich aber einbringen möchte, dann kann das zum Beispiel auch durch eine Mitarbeit im Team Österreich sein.

medianet: Das Rote Kreuz ist nicht nur eine Hilfsorganisation, sondern über verschiedenste Angebote im Rettungsdienst, aber auch in der Pflege, ein nationaler Player im Gesundheitswesen. Wie beurteilen Sie die aktuelle Reformdiskussion?
Kerschbaum: Das Rote Kreuz ist nicht zentral eingebunden, aber als nationaler und flächendeckender Dienstleister sind wir an den Gesprächen über die Entwicklung des Gesundheitswesens beteiligt. Generell kann ich sagen, dass die Reformen in eine positive Richtung gehen. Wenn man es genau betrachtet, hat es 2012 einen Paradigmenwechsel gegeben – weg von einem Weg der Maßnahmen hin zu einer Zielsteuerung. Und den Rahmengesundheitszielen kann ich durchaus viel abgewinnen.

medianet: Wo liegen für Sie die Vor- und wo die Nachteile?
Kerschbaum: Wir reden jetzt nicht mehr einfach von Strukturen und definieren Gesundheitsversorgung über Krankenhäuser, sondern über integrierte Versorgungsstrukturen. Ich finde diese Schritte mutig, aber wir sind noch lange nicht angekommen. Ich bin etwa gespannt, wie das mit den Primärversorgungszentren aussehen wird. Derzeit gibt es gerade eines – in Wien. Ende 2016 sollen aber laut Reformplan rund 80.000 Menschen in Österreich über solche Zentren versorgt werden. Da ist also noch einiges zu tun.

medianet: Wird das Rote Kreuz hier eine Rolle spielen – und wenn ja, welche? In Oberösterreich hat man ja schon den Ärztenotdienst übernommen?
Kerschbaum: Wir begrüßen den Ausbau der Primärversorgung. Eine partnerschaftliche, integrierte Versorgung unter Einbeziehung verschiedener Berufsgruppen ist gut. Ich denke, dass das auch in den Dienststellen des Roten Kreuzes stattfinden könnte. Ich sage ‚könnte‘, das ist kein Muss. Wir haben 140 Bezirksstellen, in denen schon jetzt verschiedenste Leistungen angeboten werden und verschiedenste Berufe zusammenarbeiten. Wir trauen uns das in jedem Fall zu, das zu organisieren. Und ich denke, dass es aufgrund der neutralen Rolle und des Vertrauens, das wir in der Bevölkerung genießen, gut funktionieren könnte.

medianet: Das klingt noch sehr vorsichtig. Konkret: Ist das Konzept der Primärversorgung etwas, das das Rote Kreuz auch als Anbieter von Dienstleistungen interessiert?
Kerschbaum: In letzter Konsequenz ja. Ich sehe in der Gesundheitsreform eine Chance für das Rote Kreuz mit seinen Kompetenzen. Wir sind flächendeckend vertreten und schon jetzt omnipräsent. Es ist eine Chance, dass wir da mit von der Partie sind. Am Ende geht es aber darum, dass die Leute die Gesundheitsreform erleben und sagen, dass sie ihnen etwas gebracht hat. In unserem Fall muss nicht zuletzt deshalb die mobile Pflege in die Primärversorgung integriert werden. Da kann viel abgefangen werden. Und wichtig wird auch sein, dass man die sozial schwachen Bevölkerungsschichten erreicht.

medianet: Wie könnte das genau aussehen?
Kerschbaum: Wir sind hier bereits aktiv und starten zusammen mit Philips eine Kampagne mit Kursen zur Förderung der Gesundheitskompetenz. Man darf Gesundheitspolitik nicht ausschließlich unter dem Diktat der Finanzpolitik diskutieren, und als karitative Organisation ist es gerade Aufgabe des Roten Kreuzes, darauf zu achten, dass Randgruppen nicht vergessen werden.

medianet: Also nicht nur Versorger, sondern auch Bildungsanbieter?
Kerschbaum: Das Bildungsprojekt Lernhaus ist eine außerschulische Lernförderung. Es bietet Kindern aus Österreich als auch Kindern mit Migrationshintergrund im Alter zwischen sechs und 15 Jahren ein zusätzliches Lernhilfeangebot. Das Projekt Migrants Care bietet Menschen mit nicht deutscher Muttersprache die Möglichkeit, eine Ausbildung im Pflege- und Betreuungsbereich zu ergreifen. Der Schwerpunkt des Vorbereitungskurses liegt dabei auf der Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse. Wir bieten das wie viele andere Kurse in unseren Dienststellen an. Es besuchen ja auch pro Jahr 180.000 Menschen unsere Erste Hilfe-Kurse.

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