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Redaktion 29.05.2020

Europas Grenzbalken ächzen und knarren

Die innereuropäischen Reisebeschränkungen sind ein Flickwerk an uni- und bilateralen Ankündigungen. Die Wirtschaft leidet.

••• Von Sabine Bretschneider

Die Europaminister der EU-Staaten berieten am Dienstag in einer Video-Konferenz über das weitere Vorgehen in der Coronakrise. Dabei sollte es auch um abgestimmte Schritte zur Lockerung von Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus etwa im Reiseverkehr und bei Grenzkontrollen gehen. Zuletzt schien das Thema der Union vollkommen zu entgleiten. Es kündigte sich ein Flickwerk an Grenzöffnungen an, die auch bilateral jegliche Einigkeit vermissen ließen. Daran änderte auch die Konferenz am Dienstag nichts.

Unkoordiniertes Vorgehen

Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) prangerte im Anschluss daran Versäumnisse auf europäischer Ebene bei der Öffnung der Grenzen während der Coronakrise an: „Natürlich wäre ein EU-koordiniertes Vorgehen sinnvoller”, sagte sie am Mittwoch vor dem Ministerrat. Dies werde aber „leider nicht angenommen”.

Die einschlägigen Nachrichten der vergangenen Tage: Portugal und Großbritannien verhandeln über eine Luftbrücke für britische Touristen, Südtirol kündigt einen Korridor für deutsche Touristen Richtung Italien an. Deutschlands Außenminister Heiko Maas (SPD) beabsichtigt, die seit Mitte März geltende weltweite Reisewarnung für Touristen ab dem 15. Juni für europäische Staaten aufzuheben und durch Hinweise zu einzelnen Ländern zu ersetzen. Tschechien hat am Dienstag seine Flughäfen für Flüge im Schengen-Raum wieder geöffnet – und Kärntens Nachbarregion Friaul-Julisch Venetien ist zutiefst verärgert, weil Österreich seine Einreisebeschränkungen gegenüber Italien aufrechterhält.
„Der 15. Juni soll für den Tourismus zum europäischen D-Day werden”, bemühte der italienische Außenminister Luigi Di Maio am Montagabend im italienischen TV-Sender RAI 1 einen kuriosen Vergleich. Italien will seine Grenzen am 3. Juni für EU-Bürger öffnen; Österreich ist das zu früh. Offene Grenzen nach Österreich hätte auch Slowenien gern. Auch hier bremst die Bundesregierung.
Österreich, Tschechien, die Slowakei und Ungarn hatten sich schon in der Vorwoche abgesprochen – und steuern eine Grenzöffnung untereinander für Mitte Juni an. Allerdings ist auch hier das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Kritik an Österreich

Die klassischen österreichischen Sommerurlaubsdestinationen (neben Italien sind das etwa auch Kroatien, Spanien, Griechenland) sitzen ebenfalls in den Startlöchern. Dazu kommt: Trotz der wiedererwachten Reiselust innerhalb Europas sind immer noch etliche dezidierte Reisewarnungen aufrecht. Laut österreichischem Außenministerium gelten diese derzeit etwa für Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande und Portugal, Schweden und Spanien …

Kritik am Standpunkt Österreichs kam zuletzt vor allem von den südlichen Nachbarn. Denn obwohl Österreich Lockerungen für einen Übertritt etwa aus Deutschland oder den osteuropäischen Nachbarn plant, ist derzeit nicht angedacht, die Grenzen zu Italien oder Slowenien zu öffnen. Friauls Präsident Massimiliano Fedriga warf Österreich zuletzt das Betreiben von „Tourismusdumping” vor, um die eigene Hotellerie zu unterstützen.

Der Tourismus, das BIP …

Das Thema ist allerdings nicht wegen der Reisefreude der Europäer und deren Urlaubsplanung so heikel, sondern weil der Tourismus in vielen EU-Staaten einen relevanten Anteil des BIP beisteuert. Ein paar Zahlen dazu: 2017 (das sind die aktuellsten Eurostat-Daten für die ehem. EU-28) gab es in der EU schätzungsweise etwas mehr als 656.000 Beherbergungsbetriebe mit insgesamt mehr als 31,5 Mio. Betten. Fast ein Drittel dieser Betten entfiel auf lediglich zwei Mitgliedsstaaten, Frankreich und Italien, gefolgt von Großbritannien, Spanien und Deutschland. Deutsche und Briten waren zusammen für fast die Hälfte aller Übernachtungen von EU-Bürgern im Ausland verantwortlich.

Die Deutschen gaben im internationalen Tourismus auch am meisten aus, im Jahr 2017 waren es insgesamt 78,8 Mrd. €. Am besten lässt sich die wirtschaftliche Bedeutung des internationalen Tourismus anhand des Anteils der Tourismuseinnahmen am BIP messen. Den höchsten Anteil der Reiseeinnahmen am BIP (Quelle: Reiseeinnahmen und -ausgaben für Reiseverkehr in der Zahlungsbilanz, 2012- 2017, Eurostat) verzeichneten die EU-Mitgliedsstaaten Kroatien (19,3%), Zypern (14,1%) und Malta (13,7%).
In absoluten Zahlen waren demnach die Einnahmen in Spanien (60,3 Mrd. €), Frankreich (53,7 Mrd.) und Großbritannien (45,3 Mrd.) am höchsten, gefolgt von Italien (39,2 Mrd.) und Deutschland (35,3 Mrd.). 4,9% betrug laut diesen Berechnungen der Anteil der Tourismuseinnahmen am BIP in Österreich (das entspricht 14,7 Mrd. €).

… und die Arbeitsplätze

Diese Zahlen für die Tourismuseinnahmen entsprechen allerdings bei Weitem nicht der touristischen (Gesamt-)Wertschöpfung. Zum Vergleich: Auf Basis des Konzepts eines Tourismussatellitenkontos (TSA; Statistik Austria/Wifo) beliefen sich allein die direkten Wertschöpfungseffekte der Tourismusindustrie im Vergleichsjahr 2017 auf ein Volumen in der Größenordnung von 23,61 Mrd. €, was einem Anteil von 6,4% am BIP entspricht. Mit Einberechnung der indirekten Effekte (Schätzung) ergaben sich für das Jahr 2017 direkte und indirekte Wertschöpfungseffekte von 30,49 Mrd. €. Damit addierte sich der Gesamtwertschöpfungsbeitrag des Tourismus am BIP auf 8,2% (2018: 8,4%). Zudem generiert die Nachfrage der Tourismus- und Freizeitwirtschaft fast ein Fünftel der Gesamtbeschäftigung.

Hoffen auf Deutschland

Fest steht, dass ab 15. Juni die Grenzen zwischen Deutschland und Österreich wieder vollständig geöffnet werden. Die deutsche Bundesregierung hat allerdings laut Medienberichten nach Protesten der CSU am Mittwoch das Thema Reisebeschränkungen auf die nächste Kabinettssitzung am 3. Juni verschoben.

Offene Grenzbalken zwischen Österreich und Deutschland sind eine große Chance für den krisengebeutelten Tourismus, tragen doch die deutschen Gäste 37,4% der Nächtigungen (Sommerhalbjahr 2019) bei. Zusammen mit den Inlandsgästen (29,5% der Nächtigunen) wäre ein Großteil der Betten in Österreichs Hotellerie wieder belegt. Allerdings ist diese spät startende Saison keine reguläre. Haltbare Prognosen für die laufende Saison gibt es keine. Was bleibt, ist das Prinzip Hoffnung, die Kreativität der heimischen Gastgeber – und die Hoffnung darauf, dass in naher Zukunft weitere Grenzbalken in beide Richtungen aufgehen.

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