MARKETING & MEDIA
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04.03.2016

Perfektion ist Zufall

Werbung und Kommunikation sind hochkomplexe Vorgänge. Der Erfolg einer Kampagne oder einer Botschaft ist nicht berechenbar.

••• Von Stefan Fourier


Erfahrene Werber wissen: Man kann alles „richtig” machen, und trotzdem wird es ein Flop. Oder – andersherum – man macht einen Schnellschuss und landet einen Volltreffer. Dahinter steckt eine Gesetzmäßigkeit, die von der Systemtheorie erklärt wird: Komplexität beinhaltet Unberechenbarkeit und Überraschungen.

Je mehr die Komplexität wächst, desto geringer sind die Chancen, dass Ereignisse – oder Erfolge – so eintreten, wie sie geplant wurden. In komplexen Systemen passieren Dinge, die eigentlich nicht passieren können, im Guten wie im Schlechten. Und da unsere Welt, zumal die Wirtschaftswelt, immer komplexer wird, nimmt das zu. Besonders trifft es auf alle Kreativbranchen zu, in denen einerseits der Wettbewerb dichter, die Kundschaft hektischer und andererseits die Möglichkeiten größer werden. Überall dort, wo Automatisierung keine gravierende Rolle spielt, sondern die Interaktion von Menschen der entscheidende Leistungsfaktor ist, bewirkt die hohe und steigende Komplexität die Zunahme von unerwarteten, unerwartbaren Ereignissen. Überraschende, vom Geplanten abweichende Dinge passieren täglich, wenn sie auch an der Gesamtzahl der Ereignisse einen nur geringen Anteil im Prozent- oder Promillebereich stellen. Aber: Perfektion wäre 100 Prozent! Und die wird eben nicht erreicht. Unmöglich. Es bleibt immer eine statistische Fehlerquote, die nicht unterschritten werden kann.

Perfektionismus führt zur Überforderung

Wenn das so ist, sollte das unbedingte, bedingungslose Streben mancher Menschen nach der perfekten Lösung misstrauisch machen. Solange dahinter eine Haltung von Gewissenhaftigkeit, ein hoher persönlicher Anspruch an Leistung und Organisiertheit steht, gibt es keine Einwände. Wenn jedoch die Grenze zu Zwanghaftigkeit überschritten wird, permanente Versagensängste und depressive Symptome auftreten, dann wird es kritisch. Man nennt diese Menschen Perfektionisten; ihnen genügt es nicht, das in der Situation Menschenmögliche zu tun. Zwanghaft treiben sie sich selbst und ihre Umgebung an, sind niemals zufrieden, tolerieren keinerlei Abweichungen, erlauben kein Nachlassen. Sie jagen einem Phantom nach. Es ist leistungsfördernd, eine Spannung zwischen „Soll” und „Ist” aufzubauen. Dadurch wird der Entwurf noch geschafft, die Meldung kommt noch rechtzeitig raus. Das lässt uns nach Weiterentwicklung, ständiger Verbesserung streben und ist grundsätzlich gesund. Wenn allerdings aus dem „Soll” ein „Muss” wird, handelt es sich eindeutig um eine Dysfunktionalität. Der Perfektionist handelt zwanghaft, weil angstgetrieben. Er ist einem erhöhten Distress ausgesetzt. In klinischen Studien wurden Zusammenhänge mit kritischen Krankheitsbildern hergestellt, wie Angst- und Zwangsstörungen, Alkoholismus, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Depression, sexuelle Funktionsstörungen bis hin zu Selbstmordgedanken.

In der immer enger werdenden Welt (nicht im räumlichen Sinne, sondern unter Markt- und Wettbewerbsaspekten) wachsen ­zwangsläufig der Arbeits- und Leistungsdruck. Infolgedessen werden mehr und mehr Menschen über die Grenze zum Perfektionismus getrieben. Sie gefährden sich damit selbst und ihre Umgebung. Genau aus diesen Gründen wächst auch die Burnout-Rate ­beängstigend an.

Perfektionismus verblödet Organisationen

In der Werbe- und Kommunikationsbranche ist das Sterben nach Perfektion Grundlage der Arbeit. Da finden sich Begriffe wie „perfekt”, „Spitzenleistung”, „Nummer eins” in Prospekten und auf Internetseiten. Solange das in einem vernünftigen Miteinander im Team, aber auch mit Kunden und Zulieferern, verwirklicht wird, ist es positiv und nichts dagegen einzuwenden. Kritisch wird es jedoch, wenn Perfektionismus Angst und Kontrolle zu dominierenden Themen im Arbeitsumfeld macht. Der sogenannte sozio-systemische Erfolgsfaktor Vertrauen als treibende Kraft für gute Zusammenarbeit, Kreativität, Innovation und für Unternehmenserfolg schwindet. In einer solchen ­Atmosphäre gedeihen Regelungs- und Kontrollwut. Alles wird vorgeschrieben, in dem Glauben, dadurch zu besseren Ergebnissen zu kommen. Alles wird mit Kennziffern belegt, auch in den unsinnigsten Konstruktionen, in Zielvereinbarungen geschrieben, ge-benchmarkt und ge-reviewt. In Perfektionismuskulturen wird Vorgabe und Kontrolle zum Selbstzweck. Entscheidungen werden nicht mehr von lebendigen Menschen getroffen, sondern aus Zahlenkolonnen in Management-Cockpits abgeleitet. Unternehmerisches Risiko und Entscheidungsmut kommen nicht vor. Da eh nichts dem Perfektionismusanspruch genügt, ist jeder gut beraten, sich abzusichern. Das Ganze geht einher mit der Ausbildung starker Hierarchien und befestigter Bereichsgrenzen. Und am Ende geht im Unternehmen und zwischen Unternehmen nichts mehr normal – die Organisationen sind verblödet.

Schleichende Krankheit

Nun soll niemand glauben, er selbst und sein Unternehmen seien gegen Perfektionismus gefeit. Je größer der Druck, desto häufiger werden Anforderungen nicht erfüllt. Das führt – wenn man damit nicht gemeinsam klug umgeht – wiederum zu höherem Druck, zu noch mehr Fehlern, mitunter zu unlauteren Versuchen, Ergebnisse zu schönen und so weiter. Eine Teufelsspirale entsteht, an deren Ende die Perfektionismusfalle steht. Ist eine Organisation oder eine Kooperation einmal auf dem Weg dorthin und wird sie nicht durch drastische Interventionen daran gehindert weiterzugehen, dann schnappt diese Falle irgendwann zu. In manchen Großorganisationen kann man diese Entwicklung in Reinkultur besichtigen, in Konzernen, Behörden und beim Finanzamt. Diese tragen darüber hinaus mächtig dazu bei, dass sich die genannten Erscheinungen auch in kleineren Unternehmen verbreiten. Sie üben auf der Grundlage von Gesetzen und Compliance-Regeln Druck aus und sorgen auf diese Weise dafür, dass jeder sich besser absichern muss. Perfektionismus breitet sich aus. Es bedarf also nicht unbedingt eines perfektionistischen Chefs, der seine Umgebung unter Kontrolle zwingt, sondern die Eigendynamik von Organisationen führt, wenn sie nicht gebremst wird, in die Perfektionismusfalle –langsam, schleichend, aber sicher.

Gegenmittel

Die Medizin gegen den Perfektionismusbefall ist der Mensch. Das klingt zunächst überraschend, denn schließlich ist er Betroffener und in gewisser Weise auch Verursacher des Perfektionismus und seiner Auswirkungen. In sehr vielen Fällen – überall dort, wo Perfektionismus sich ungezügelt ausbreitet – sind Menschen passive Teile des „Systems”. Sie ordnen sich den Regeln und Bedingungen in ihrer Umgebung unter, hinterfragen sie nicht und folgen den Gewohnheiten.

Das muss aber nicht so sein, denn Menschen haben die Fähigkeit zu gestalten – auch die Systeme, zu denen sie selbst gehören. Dazu müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens müssen die Menschen gestalten dürfen, was nicht überall selbstverständlich ist. Zweitens müssen die Menschen gestalten können. Dazu benötigen sie Wissen und Erfahrungen. Sehr hilfreich kann die einfache Frage sein, wie man die erforderlichen Ergebnisse mit nur 80 Prozent des üblichen, gewohnten Einsatzes schaffen kann. Wenn man sich auf diese Frage konzentriert, sie sozusagen zu einem neuen Paradigma erhebt, ergeben sich viele Möglichkeiten, mit weniger Aufwand zum Ziel zu kommen. Dadurch wird Stress reduziert, der Arbeitsdruck für den Einzelnen sinkt, die Effektivität der Organisation und der Zusammenarbeit steigt, es werden Potenziale für Weiterentwicklung und Innovation freigesetzt, das Arbeitsklima bessert sich. Arbeiten und Leben werden dadurch nicht perfekt, aber besser. Und schlau ist ein solcher Weg allemal.

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