BERLIN / WIEN / KIEW / MOSKAU. Im Wirbel des Ukrainekrieges stehen noch in Russland tätige westliche Unternehmen vor einem Dilemma. Wie findet man ein Gleichgewicht im Tauziehen zwischen der russischen Regierung und denen, die härtere Sanktionen befürworten? Die meisten Firmen, die ihre Geschäfte in Russland nach dem Einmarsch in die Ukraine noch nicht ausgesetzt haben, begründen dies damit, dass sie lebenswichtige Güter wie Lebensmittel oder Medikamente liefern.
Ein Rückzug würde der russischen Bevölkerung schaden, argumentieren sie. "Sie glauben, dass sie die von ihnen abhängigen kleinen russischen Unternehmen und Verbraucher nicht einfach im Stich lassen können", erklärt Bruce Haynes, für Krisenkommunikation bei der PR-Firma SVC+FGH zuständig. Einige befürchten zudem rechtliche Folgen für ihre Mitarbeiter im Land, sollte die russische Regierung Vergeltungsmaßnahmen ergreifen. Doch mit der steigenden Zahl von Opfern und Flüchtlingen wächst auch der Druck, die Geschäfte in Russland ganz einzustellen.
"Solange es nicht zu einer Trendwende kommt - wofür es im Moment keine Anzeichen gibt - wird der Druck zunehmen", sagt BSR-Chef Aron Cramer, dessen Firma andere Unternehmen in Geschäftsethikfragen berät. Mehr als 400 westliche Unternehmen haben sich nach einer von Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld erstellten Liste seit dem Beginn des Krieges aus dem Land zurückgezogen. Sie haben Vermögenswerte hinterlassen, die vor der Invasion, die Russland offiziell als "militärischen Sondereinsatz" bezeichnet, insgesamt Hunderte von Milliarden Euro wert waren. Etwa 80 Unternehmen blieben dort allerdings tätig, auch wenn sie neue Investitionen ausgesetzt haben. Viele davon sind Konsumgüter-, Pharma- oder auch Softwarekonzerne.
Nestle, PepsiCo oder Procter & Gamble (P&G) wollen weiterhin in Russland agieren, um Menschen mit Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln zu versorgen. Zwar lehnten diese Konzerne das Vorgehen Russlands in der Ukraine im Grunde ab, betont Katie Denis von der Consumer Brands Association, einer Lobby-Gruppe, die PepsiCo, Coca-Cola und P&G zu ihren Mitgliedern zählt. Doch die russische Bevölkerung solle nicht dafür büßen. Dieses Argument bringt auch SAP-Chef Christian Klein. Europas größter Softwarekonzern hat zwar Vertrieb und Services in Russland gestoppt, erhält aber Geschäftsbeziehungen zu Firmen etwa aus den Bereichen Energie, Gesundheit und Handel aufrecht. "Unternehmen, die für Bürgerinnen und Bürger von entscheidender Bedeutung sind", sagte Klein dem Mannheimer Morgen. Die Zivilbevölkerung leide schon stark genug.
Zugleich stellten Pharma-Schwergewichte wie Bayer, Pfizer und Eli Lilly ihre Teile ihrer Aktivitäten in Russland ein, liefern allerdings weiterhin Medikamente für Krankheiten wie Diabetes oder Krebs. Verschreibungspflichtige Arzneien seien von den internationalen Sanktionen ausgenommen, da sie einen wichtigen humanitären Bedarf decken, wird betont. In den vergangenen Tagen sind jedoch auch diese Produkte unter die Lupe genommen worden: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij forderte Pharmakonzerne auf, einen kompletten Rückzug aus Russland zu vollziehen. Sonnenfeld - dessen Liste von Menschenrechtsaktivisten genutzt wird, um die Unternehmen unter Druck zu setzen - plädiert ebenfalls für eine solche Maßnahme.
Einige Arzneimittelhersteller haben jedoch den Rückhalt ihrer Aktionäre. Etwa von Josh Brockwell von Azzad Asset Management: Er unterstützt nachdrücklich Pfizers Entscheidung, Russland weiter zu beliefern. "Ich finde nicht, dass die Menschen für die Aktionen der (russischen) Regierung leiden sollten." Einige europäische Arzneimittelhersteller, darunter der Schweizer Novartis-Konzern, betreiben immer noch ihre Produktionsstätten in dem Land, während die meisten US-Pharmaunternehmen nach eigenen Angaben keine Medikamente mehr in Russland herstellen. Novartis, Bayer, Pfizer und Eli Lilly wollen etwaige Gewinne aus Verkäufen in Russland für humanitäre Zwecke verwenden, Novartis und Bayer etwa wollen Millionen spenden.
Die Frage ist auch: Was passiert mit den Fabriken, der Ausrüstung und den Beschäftigten, die Unternehmen zurücklassen? Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit der Enteignung von Vermögenswerten von Unternehmen gedroht, die ihre Tätigkeit im Land einstellen. Russische Staatsanwälte haben einem Insider zufolge gewarnt, dass Mitarbeiter verhaftet und strafrechtlich verfolgt werden könnten, wenn die Produktion lebenswichtiger Güter nicht gewährleistet ist - ein kompletter Ausstieg kann in Russland nämlich als "krimineller Bankrott" betrachtet werden. Viele Unternehmen sind auch darüber besorgt, was mit ihren Anlagen in ihrer Abwesenheit geschehen würde. Eine stillgelegte Lebensmittelfabrik könnte etwa für die Versorgung der russischen Truppen in der Ukraine umgewidmet werden.
Nach einer Enteignung ist es nicht so einfach, Vermögenswerte wiederzuerlangen. Unternehmen können zwar Russland vor internationalen Gerichten wie dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) verklagen, erklärt Tiffany Compres von der Anwaltskanzlei FisherBroyles. Doch solche Fälle ziehen sich meist über Jahre- und Russland kann nicht zur Zahlung gezwungen werden. "Selbst wenn das Unternehmen die Klage gewinnt, steht Russland in dem Ruf, nicht zu zahlen." (red)