RETAIL
© Martina Berger

Redaktion 12.11.2021

„Lehrlinge mit dem Plus” gegen Fachkräftemangel

Die Wirtschaft klagt seit langem über zu wenige Lehrlinge. Der Verein lobby.16 vermittelt Flüchtlinge an Firmen.

••• Von Georg Sander

Fachkräftemangel – kaum eine Woche vergeht in Österreich ohne dieses Wort. Gewisse Berufe wirken für junge Menschen nicht attraktiv genug, um sie zu erlernen, vor allem mit der klassischen Lehre. Herzaubern kann man sie nicht, die ausbildungswilligen Kids. Das muss man auch gar nicht, denn es gibt tatsächlich viele, die gerne arbeiten wollen, auch in den Bereichen Gastronomie oder Einzelhandel. Sie sind als Kinder aus vielen verschiedenen Ländern gekommen, lernen die Sprache und wollen Teil dieser Gesellschaft sein: Flüchtlinge. Der Wiener Verein lobby.16 hilft den jungen Schutzsuchenden punkto Ausbildung, Integration und wirtschaftlichem Ankommen in Österreich und vermittelt sie an heimische Unternehmen. Die Zahl 16 im Vereinsnamen steht dabei für das Alter vieler junger Geflüchteter, die Beratung suchten und immer noch suchen – eine Erfolgsgeschichte seit 2008, die 2022 ins 13. Jahr gehen wird. medianet hat den Verein, einen Lehrling und einen Betrieb besucht.

„Ein Freund hat mir von lobby.16 erzählt, also habe ich meine Unterlagen hingeschickt”, erzählt Darin. Sie ist 19 Jahre alt, kam 2015 nach Österreich. Nach einem mehrmonatigen Training hat sie Mitte des Jahres bei dem traditionsreichen Stoffhändler Komolka auf der Mariahilfer Straße ihre Lehre angefangen. „Ich bin auch in meine eigene Wohnung gezogen und möchte auf meinen eigenen Beinen stehen”, sagt sie. Wie funktioniert aber die Vermittlung von jungen Flüchtlingen mit Aufenthaltstiteln, die bei kleinen und großen österreichischen Unternehmen eine Lehre anfangen können?

Das Passende finden

„Im September beginnen wir mit den Bewerbungen und dann bereiten wir die Jugendlichen vor”, erklärt Irmgard Kischko, seit 2008 Obfrau von lobby.16, den Ablauf: „Mehrere Monate bekommen sie einen intensiven Deutschkurs und eine Berufsorientierung, wir stellen den Kontakt zu Unternehmen her, damit sie auch reinschnuppern können.” Die Branchen sind querbeet: von kleinen Firmen über die Baubranche, Hotels bis zu großen Firmen wie Magenta oder Rewe-Gruppe. Neben Deutsch stehen Mathematik, Englisch, aber auch Arbeitsrecht auf dem Programm.

Darin, die im Textilbereich beim traditionsreichen Kaufhaus Komolka gelandet ist, hätte sich auch eine Ausbildung bei Magenta vorstellen können, hat auch Bewerbungen an Hotels geschickt. Eine von vielen Erfolgsgeschichten, vor allem auch, weil die Kids am ersten Arbeitsmarkt landen. „Die Lehre ist ganz normal, wie sie andere auch machen”, meint Sarah Pallauf, Projektmitarbeiterin, „einige machen sogar schon die Lehre mit der Matura”.

Die besonderen Lehrlinge

Was eine Lehre ist, das wissen viele der Jugendlichen gar nicht so genau, wenn sie zum Verein kommen. In den Herkunftsländern gibt es diese Ausbildungsform oftmals nicht in vergleichbarer Art und Weise. „Sowas gibt es in Syrien oder Afghanistan gar nicht. Aber hierzulande zählt der Abschluss etwas, und die Jugendlichen sehen auch, dass sie gesucht werden”, führt die Obfrau aus: „Ein tolles Beispiel ist ein Bursche, der in Wien eine Kochlehre gemacht hat. In Kitzbühel hat er sich bei fünf Hotels beworben und alle hätten ihn genommen. Er wurde echt umworben, das hat er noch nie erlebt.”

Auch der Textilhandel, so Pallauf, wäre nicht das „Coole” für viele Kids. Für die von lobby.16 Betreuten aber schon. Sie konnten oftmals keine Schule fertig machen, nicht wenige sind ganz alleine da. Die Ausbildungsstätten helfen bei der Integration. Und, Stichwort Hotellerie, sie machen auch Jobs, die heimische Jugendliche nicht machen wollen – weil diese zu weit weg wären, weil man zuerst einmal die Matura machen wollte.
Darüber hinaus sind die vom Verein betreuten Jugendlichen auch 18, 19, 20 und nicht erst 15, 16 Jahre alt. Selbst ohne den Faktor Fluchterfahrung sind sie reifer, haben oftmals schon gearbeitet. Etwas, das auch die Betriebe schätzen ­würden.

Bekanntheit hilft

„Als wir 2008 angefangen haben, haben wir einen Unternehmens­pool an Firmen aufgebaut, die nun schon länger mit uns zusammenarbeiten”, schildert die Obfrau die Unternehmersicht. Etwa die ÖBB, Magenta oder Porr; auch kleinere Unternehmen sind dabei: „Mittlerweile haben wir einen großen Pool. Viele sind froh, wenn sie Lehrlinge finden und auch wissen, dass ein Verein dahintersteht.” Nachdem lobby.16 eine gewisse „Vorselektion” betreibt, die Jugendlichen berät, steigt auch die Wahrscheinlichkeit eines „Treffers”.

Pallauf skizziert die Aufnahme: „Wir haben ein recht langes und wichtiges Aufnahmegespräch. Manche kommen mit Berufswunsch, manche ohne, und wir schauen, wo passen Vorstellungen und Wissen zusammen. Wichtig ist auch, dass sie einfach offen sind.” All das habe dazu geführt, dass das Vertrauen bei allen drei beteiligten Seiten hoch ist.
Inzwischen melden sich die Unternehmen auch selbst beim Verein. Den Fachkräftemangel gebe es ja auch schon länger, Kischko meint allerdings, es wäre „in der Pandemie schlechter geworden. Gastgewerbe, Hotellerie, in Westösterreich, da ist es nicht so leicht, jemanden hinzuvermitteln”. Die Industrie, um noch einen weiteren Wirtschaftszweig anzuführen, sei auch nicht mehr so sehr in Wien vertreten – eine Herausforderung, weil die Lehrlinge ja erst einmal ins Umland kommen müssen, mit den Öffis. Das würden sie aber gerne machen, weil sie „etwas lernen wollen und diese Schwierigkeiten auch meistern möchten”.

So sieht es im Betrieb aus

Ortswechsel: Das traditionsreiche Textilhandelsunternehmen Komolka auf der Mariahilfer Straße, ein etwas aus der Zeit gefallen wirkendes Kaufhaus, vom Chef geführt in dritter Generation. Hier lernt Darin, wie man Stoffe verkauft. Peter Komolka sitzt im Büro, es ist geschäftig. „Ich will nicht sagen, dass es keine Lehrlinge gibt, es gibt nur nicht die richtigen”, stellt er klar. „Ich habe einen gewissen Anspruch, der nicht unüberwindbar ist.” Da habe er allerdings schon einige negative Erfahrungen gemacht: „Ich bekomme Bewerbungen in schlechtem Deutsch, ohne Motivationsschreiben, Anreden wie „S.g. Firma XY.” Dafür habe ich leider keine Zeit. Ich verstehe zwar, dass jeder eine Chance verdient, aber ich brauche eben die richtigen Lehrlinge.”

Darin, die von dem Chef persönlich gelobt wird, sei da anders. Es ist der erste, bislang höchst erfolgreiche Versuch mit lobby.16. „Ich habe jemanden bekommen, der ‚fertig' ist, unabhängig davon, wo sie herkommt”, meint er. Neben der Familie spiele auch die Schule eine große Rolle – die Mängel des heimischen Schulsystems werden beim Verein gewissermaßen behoben. Im Schulsystem sieht er einen Hauptgrund, warum es mit den Fachkräften hakt.
„Wir bilden erst seit etwas mehr als zehn Jahren aus”, erzählt Komolka, der sowohl Verkauf als auch Schneiderei vereint – eine Herausforderung für den Chef, aber einen Lehrling könne man an diese speziellen Herausforderungen anpassen. „Ein 15-Jähriger, der die österreichische Pflichtschule abgeschlossen hat, der ist noch nicht bereit für den Job. Ich würde sie länger in der Schule lassen.” Wie kann man dem Fachkräftemangel begegnen? „Die Lehrer können nur so gut lehren, wie es die Umstände zulassen. Die Kinder können nur so gut vorbereitet sein, wie es die Eltern können”, lautet sein Attest. Man müsste also schon in Kindergarten und Volksschule mehr unterstützen, denn „die Probleme, die ich da nicht angehe, schiebe ich von der Kindheit, über die Jugend bis ins Erwachsenenalter.” Es sei ein Henne-Ei-Problem. Was für ihn als Wirtschaftstreibender derzeit eben ganz wichtig sei, ist, dass die lobby.16-Kids eben älter sind.

Vorbild für andere

Darin ist dabei in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Lange Zeit betreute der Verein nämlich nur männliche Jugendliche, erst rund um das Jahr 2015 kamen überhaupt Mädchen zum Verein; sie ist da ein positives Vorbild, hat die Schule absolviert, hat eine eigene geförderte Wohnung und schlägt sich allein durch.

Bei all den positiven Aspekte soll aber nicht vergessen werden, dass es auch Probleme geben kann. Es kann die falsche Lehrstelle sein, es kann zwischenmenschlich nicht passen. Das betrifft alle Lehrlinge. Flüchtlinge haben dazu noch andere Stressfaktoren wie die eigene Fluchterfahrung, laufende Asylverfahren, zudem sind sie, wie erwähnt, oft älter und können nicht, wie heimische Kids im ersten Lehrjahr, auf eine Familie bauen.
Die Lehrlingsentschädigung ist gering, der Wohnungsmarkt gerade in Wien schwierig. „Ich bekomme knapp über 600 Euro Lehrlingsentschädigung, der Rest ist Mindestsicherung, die Wohnung muss ich ja auch bezahlen”, erzählt Darin.

Wirtschaft ist weiter

Die Unternehmen seien oftmals weiter als die Politik selbst, wo oft noch gegen den Zuzug polemisiert werde, heißt es vom Verein. Viele Firmen leben Diversität auch mit einem gediegenen Nutzen fürs Unternehmen selbst: „Eine Bank etwa hat ja auch Kunden, die Arabisch sprechen, das können syrische Flüchtlinge natürlich”, erklärt Kischko. Bei etwaigen Fragen – Kopftuch, Aufenthaltstitel und Co. – hilft lobby.16 tatkräftig.

Flüchtlinge, die eine Lehre machen wollen, in Berufen, die die Wirtschaft sucht – es wirkt wie eine echte Win-Win-Win-Situation für alle daran Beteiligten.

TEILEN SIE DIESEN ARTIKEL