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© APA/AFP/Justin Tallis

15.01.2016

Warum Star Wars VII das Kino nicht rettet

Dem Hollywood-Film könnte es im 21. Jahrhundert so ergehen wie dem Stummfilm in den 1930ern. Er ist auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit, allen Startrekorden einzelner Produktionen zum Trotz.

••• Von Michael Carl

Keine Interaktion! Schon wieder nur Popcorn und Nachos mit Käse. Ein Film für alle, mit fester Anfangszeit. Nichts, was ein durchschnittliches Heimkino nicht längst besser könnte! Auch die Vermarktungsketten sind ein Alptraum: Explodierende Investitionen in Film und Kinotechnik, letztlich hilflos gegen Raubkopierer, die Refinanzierungsmechanismen zerfallen. Das Kino muss sich neu erfinden, um eine Zukunft nach Netflix und „Breaking Bad”, 100 Zoll-Ultra-HD-Fernsehern und Surround Sound im durchschnittlichen Wohnzimmer zu entwickeln. Die Zukunft des Kinos ist mobiler Service, flexibel und beweglich, exklusiv und interaktiv. Mit einfachen Marketingkampagnen ist das Kino nicht zu retten.

Das Kino der Zukunft ist techniklastig

Bereits jetzt ist der 3D-Film der Standard – und die Entwicklung nicht zu Ende. Die Brille im Kinosaal ist etabliert. Schon jetzt stehen Hardware- und Softwareanbieter in den Startlöchern, um den 3D-Standard durch Virtual und Augmented Reality zu ersetzen. Im Kino beginnen die Einsatzmöglichkeiten von Datenbrillen mit der Einblendung beliebiger Untertitel oder Zusatzinformationen über die Handlung, die Produktion, den Regisseur. Mit einer modernen Datenbrille muss sich ein Paar, das zusammen ins Kino geht, in Zukunft nicht mehr auf einen Film einigen. Während der eine „Stirb Langsam 13” sehen kann, läuft bei dem anderen „Minions 5”. An der Kasse bekommt jeder seine Datenbrille – mit je eigenem Programm. So können sie nebeneinander sitzen, das Popcorn teilen und trotzdem den je eigenen Wunschfilm erleben. Der Saal löst sich vom Film und der Leinwand und wird zum eigenen Gestaltungs­objekt und Publikumsanreiz. Aber auch diese Anwendung ist, verglichen mit den potenziellen Möglichkeiten künftiger VR-Brillen, noch zu linear gedacht.

Eine wirklich neue Kinowelt entsteht in dem Moment, in dem die Zuschauer zu Miterlebern und Mitgestaltern werden. Die Grenzen zwischen Film und Videospiel werden perspektivisch verschwimmen, das Publikum wird in die Geschichte eintauchen. An der Kinokasse oder im VR-Brillen-Menü wird man in Zukunft vor der Wahl stehen, ob man die Beobachterperspektive, die Ego-Perspektive des Protagonisten oder den freien Flug erleben möchte. Und die nächste Stufe: Abseits vom Geschehen aktiv die Welt verändern – wie in einem Videospiel! Auch wenn die Haupthandlung nicht beeinflusst wird, ermöglicht dieses Eintauchen ein viel intensiveres Erleben.
Wer dieser Entwicklungen gedanklich folgt, landet sehr schnell bei einer der entscheidenden Fragen für das zukünftige Geschäftsmodells des Kinos: Warum braucht es noch einen Kinosaal, wenn ich das alles auch mit einer VR-Brille im eigenen Wohnzimmer haben kann? Die Antwort: Technologie. Selbstverständlich gibt es Technologien, die zusätzliche Sinne ansprechen, die zu Hause nicht zur Verfügung stehen. Bislang haben sich diese allerdings nicht durchgesetzt. Duftkinos und 4D-Kinos mit Wackelsitzen gibt es seit der Jahrtausendwende. Dennoch sind sie bisher nicht im Breitenmarkt angekommen – das Standardkino hat ja funktioniert.
In Asien verläuft die Entwicklung anders. Das Unternehmen 4DX bietet Kinobesuchern in Seoul seit fünf Jahren die vierte Dimension: Während des Films entsenden Düsen in der Armlehne passende Gerüche, Windböen machen das Erlebnis auf hoher See authentisch. Das Publikum wird aktiver Teil des Geschehens und rückt noch näher an die Geschichte heran. 4DX kündigte kürzlich den Eintritt in den deutschen Markt an. Es sind allerdings kaum Anzeichen für einen Erfolg zu erkennen. Worin besteht also die Chance des Kinos, wenn es Wasser und Wind nicht sind? Das heimische Wohnzimmer kann auf den ersten Blick alles, was auch Kino kann – nur besser. Binge Watching, das Schauen von vielen Folgen einer Serie am Stück, ist Filmleidenschaft pur – besonders spannend, wenn Anbieter Serienstaffeln zur Premiere komplett veröffentlichen. Die Zuschauer müssen sich nicht mehr mit singulären Film­erlebnissen zufriedengeben. Cineasten verfolgen das Serienepos „Game of Thrones” und tauschen sich in Fachforen über die Abgründe von „Breaking Bad” aus.

Es ist konsumentengetrieben

Wo ist hier Platz für das Kino? Die Vermarktungslogik von Serienproduzenten sieht im klassischen Sinne keinen Umweg durch das Kino vor. Und doch ist genau dies einer der interessantesten Ansatzpunkte für Kinobetreiber – denn das ist es, was das Publikum sehen möchte. Das Serienkino der Zukunft findet nicht mehr nur zur Prime Time mit dem Hollywood-Blockbuster statt, sondern bietet seinen Gästen zum Start in den Tag das Abo zum „Breaking Bad”-Frühstück oder die „Game of Thrones”-Mittagspause – drei Monate am Stück, jeden Tag ein fester Platz unter Fans und Freunden. Oder das Kino bietet die Spinoffs, Nebenhandlungen und Seitenstränge, um den Serienjunkies Mehrwert zu bieten.

Dies ist natürlich keine Lösung für alle Zielgruppen. Dem Kino ergeht es ebenso wie anderen Branchen: Der digitale Wandel strukturiert die Kundengruppen grundlegend neu. Erstens schwindet das Standardsegment. Zweitens zeichnen sich die verbleibenden beiden Segmente durch unterschiedliche Logiken aus: Economy-Kunden kalkulieren nach wie vor rational das Kosten-Nutzen-Verhältnis, wobei allerdings jetzt zweitrangig ist, über wie viel Kapitel sie verfügen.
Im Premium-Bereich greift eine grundsätzlich andere Logik: Hier geht es in erster Linie um das Identitätsmanagement, um den Ausdruck der eigenen Individualität nach innen und außen mit einer Marke, einem Anbieter, einer Bewegung. Das gehobene Economy-Segment kann das Kino auch morgen noch erfolgreich durch besondere Erlebnisse und außergewöhnliche Rahmenprogramme anziehen. Das gastronomische Angebot passend zum Film, Schoko-Fondue zu Bridget Jones und das klassische Frühstück bei Tiffany in Abendrobe am Platz, serviert im Ohrensessel mit Beistelltisch. Premiumkunden erwarten Exklusivität und nutzen den Kinobesuch, um die eigene Identität zu untermauern und auszudrücken. Im Ergebnis wird dies auf stärkere Eigenmarken im Kinobereich hinauslaufen, trennscharfe Angebote auch in Bezug auf das Programm, klare Abgrenzung zwischen den Kinos. Wertebasierte Kinos setzen vermehrt auf Kooperationen; Adidas sponsert den zweiten Teil von „Forrest Gump”, Mars den Marsianer, oder der lokale Zoo die Ausstrahlung des neuen „Madagascar”-Films.
Community-orientierte Premium-Kunden können ideal adressiert werden, indem speziell für sie exklusive Sonderveranstaltungen durchgeführt werden: Am Dienstag um 16 Uhr eine Lehrervorstellung „Fack Ju Göhte!” Am Freitag der große „Star Wars”-Abend, Eintritt nur mit authentischer Kleidung. Und am Samstag die Vorpremiere des neuesten Rennfahrerepos über Michael Schumacher exklusiv für Mitglieder des ADAC. Die Grundidee ist immer gleich: Hier hat nicht jeder Zutritt! Und wer reinkommt, darf sich besonders fühlen.

Die Geschäftsmodelle der Zukunft

Praktisch alle Kinobetreiber bieten ihre Säle für externe private wie geschäftliche Veranstaltungen an. Diese Mehrnutzung ist naheliegend und sinnvoll, auch wenn Kinobetreiber heute die kleinteilige Abrechnung scheuen. Innovativere Kinos entwickeln eigene Hymnen und Spots oder probieren Duft­kino-Technologien von Interscent AG aus. An dieser Stelle wird schon sehr viel modernes Marketing betrieben, es werden besondere Anreize gesetzt, wodurch eine Kundenbindung erst entstehen kann.

Doch muss das Kino wirklich im Kino stattfinden? Was der Lieferdienst für Pizza und Co, ist der mobile Saal für das Kino. Der Kinobetreiber der Zukunft liefert Ihnen neben dem Film auch den Kinosessel, Popcorn, eine Leinwand, den HD-Beamer und die neueste Dolby-Atmosound-Anlage nach Hause – ein Heimkino, das seinen Namen verdient. Kino als Service, beliebig skalierbar, vom ­Familiengebrauch bis zur Gartenparty.
Entfernen wir uns noch ein bisschen weiter vom stationären Charakter des Kinos: Filmerlebnis unterwegs heißt heute noch, auf einem zu kleinen Display und mit minderwertiger Soundqualität eine DVD im Bus oder Zug zu sehen. Die Kooperation von Fernbus- und Kinobetreibern bildet ein potenzialträchtiges Differenzierungsmerkmal: Die gemeinsame Kinoroute, auf der neueste Filme mit modernster Technik laufen. Der HD-Kinobus auf der Autobahn, nach Fahrplan oder on demand. Oder muss es im Kino nur Filme zu sehen geben? Oper, Theater, Konzert stehen längst auf dem Programm von Premium-Kinos. Die sehr viel massentauglichere Option ist eSports. Die YouTube-Channels der Profi-Spieler haben Abonnenten im Millionenbereich. Die Spiele rufen geradezu nach großen Leinwänden und beeindruckendem Sound. Das Kino wird dabei zum einen zum Veranstaltungsort, zum anderen kann der Event in alle anderen Kinos der Welt übertragen werden.
Das wahrscheinlich größte, bislang unerschlossene Potenzial liegt an der Schnittstelle von Kino und Partnerwahl. Dank smarter Persönlichkeitsanalysen ist es heute möglich, aus dem Verhalten eines Menschen ein psychologisches Profil zu erstellen. Trägt ein Kinogast eine AR-Brille, umso leichter: Wo lacht er? Wo zeigen seine Mikrogesten Abscheu, Freude, Schrecken? Wo steigt seine Faszination? Wo wendet er den Blick ab? Und nach dem Film gibts die SMS der Partnervermittlung: „Wenden Sie sich an Platz 34E – herzlichen Glückwunsch, Ihre Profile passen!” Ein Matching, leistungsfähiger als Tinder und Lovoo – umso besser, je häufiger Sie das Kino desselben Anbieters besuchen. Der Service für Stammkunden ist ein Platz in der Nähe von Menschen, die den eigenen Humor teilen, automatisch zugewiesen. Und die Kür ist die E-Mail der Partnervermittlung: Heute Abend geht jemand ins Kino, der gut zu Ihnen passt. Wir haben Ihnen eine Karte reserviert. Sie treffen sich um 20:00 Uhr an der linken Eingangstür.”


Dieser Text ist eine von Feature-Redakteurin Alexandra Binder gekürzte Versioneiner Trendanalyse von Michael Carl, Forschungsdirektor 2b Ahead ThinkTank.
www.trendforscher.eu

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