In den letzten Jahren hat sich die Künstliche Intelligenz massiv weiterentwickelt, und die Transformation ist noch lange nicht zu Ende. Wie jede technologische Entwicklung findet die KI in vielen Bereichen des Lebens Anwendung, so auch im Handel. Und wie bei allen großen Neuerungen gibt es einerseits viele spannende Anwendungsbereiche, die einem die Arbeit erleichtern – klar ist andererseits aber auch, dass so große Umwälzungen Bedenken auslösen und für Sorgenfalten sorgen. Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will diskutiert im Interview die Pros und Contras der rasant voranschreitenden Entwicklung der KI und weiß, an welchen Stellen durchaus Vorsicht geboten ist.
medianet: Herr Will, welche Abläufe im Handel werden bislang schon durch Machine Learning, Künstliche Intelligenz oder Large Language Model standardisiert?
Rainer Will: Mehr als 37 Prozent der heimischen Händler haben bereits KI-Tools im Einsatz. Ein zentrales Einsatzgebiet ist das Bestandsmanagement. Hier nutzen Händler KI, um Verkaufsdaten zu analysieren und zukünftige Nachfragen präzise vorherzusagen. Dadurch können Über- und Unterbestände erheblich reduziert werden, was sowohl Kosten spart als auch die Kundenzufriedenheit erhöht. Ein weiteres Beispiel ist personalisierte Werbung, die mithilfe smarter Algorithmen und hochwertiger Kundendaten laufend verbessert wird. Im globalen Onlinehandel wird KI auch in der Preissetzung häufig eingesetzt. Mit Dynamic Pricing können Preise auf Webshops in Echtzeit angepasst werden, abhängig von Faktoren wie Nachfrage, Wettbewerberpreisen und saisonalen Trends.
medianet: Wo orten Sie die Hauptanwendungsgebiete von diesen neuen Technologien im heimischen Handel?
Will: Die Anwendungsgebiete sind vielfältig. Im Kundenservice setzen beispielsweise viele Einzelhändler auf Chatbots, die 24/7 verfügbar sind. Diese Systeme können einfache Anfragen sofort beantworten, was den Kundenservice entlastet und Wartezeiten reduziert. Im Marketing wird zunehmend auf hochpersonalisierte Werbung gesetzt. KI analysiert das Kaufverhalten und erstellt maßgeschneiderte Angebote, welche die Conversion-Rate steigern. Und natürlich optimiert KI auch die Logistik und unsere Lieferketten. Durch Echtzeitanalysen können Händler Engpässe frühzeitig erkennen und Prozesse effizienter gestalten.
medianet: In Sachen KI ist derzeit viel in Bewegung und wird es auch bleiben. Was ist am spannendsten?
Will: Besonders hervorzuheben sind Large Language Models (LLMs). Diese ermöglichen eine tiefere Analyse von Kundenfeedback und die Automatisierung von Kundenanfragen. Sie können personalisierte, kontextbezogene Antworten liefern und somit die Kundenbindung stärken. Auch die Entwicklung KI-gestützter Analysetools ist bemerkenswert. Händler können damit nicht nur Trends erkennen, sondern auch proaktive Entscheidungen treffen, die auf datengestützten Erkenntnissen basieren. Diese Technologien verändern die Art und Weise, wie wir mit Kunden interagieren. Aber auch im Bereich der Fraud Prevention und Fraud Detection – also der Vorbeugung, Entdeckung und Reaktion auf betrügerische Handlungen im Unternehmen – ist der Einsatz von Machine Learning-Algorithmen ein Gamechanger. KI-Anwendungen können etwa aus einer Vielzahl an Abrechnungen automatisch jene Vorgänge herausfiltern, die auffällig sind.
medianet: Omnichannel ist heute ein Muss. Wo findet die KI hier konkret Einsatz?
Will: Gerade im Omnichannel-Handel spielt Künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle. Sie hilft, das Kundenverhalten über verschiedene Kanäle hinweg zu analysieren und nahtlose Einkaufserlebnisse zu schaffen. Beispielsweise können Händler durch die Analyse von Kaufhistorien personalisierte Angebote erstellen, die sowohl im Geschäft als auch online funktionieren. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Kunden die Angebote annehmen. Zudem hilft KI, die Nachfrage über alle Vertriebskanäle hinweg zu prognostizieren. Händler können damit sicherstellen, die richtigen Produkte zur richtigen Zeit verfügbar zu haben. Das ist besonders wichtig im Wettbewerb mit großen Online-Giganten, die oft mit niedrigeren Preisen und schnellem Versand locken.
medianet: Online-Giganten ist ein gutes Stichwort. Welche möglichen Gefahren ergeben sich aus dem Thema KI für den heimischen Handel?
Will: Trotz der vielen Vorteile bringt die KI auch gewisse Risiken mit sich. Ein zentrales Anliegen ist der Datenschutz. Händler müssen sicherstellen, dass sie die Daten ihrer Kunden verantwortungsbewusst nutzen und die geltenden Datenschutzbestimmungen einhalten. Dies kann komplex sein und erfordert oft erhebliche Investitionen in sichere Systeme. Hinzu kommt die Problematik dubioser Online-Plattformen aus Fernost, die das Datensammeln zum eigentlichen Geschäftsmodell erhoben haben. Beispielsweise macht Temu mit jeder Bestellung im Schnitt einen Verlust von sieben US-Dollar. Aber 42 Prozent der Österreicher haben bereits dort bestellt – damit verfügt Temu über die Kundendaten von fast der Hälfte unserer Bevölkerung.
medianet: Vor allem ist das alles nicht gratis; große Player tun sich da leicht …
Will: Die erforderlichen Investitionen in KI-Lösungen sind eine andere Herausforderung, insbesondere für kleine und mittelständische Händler. Viele Betriebe haben Schwierigkeiten, finanziell Schritt zu halten, was zu Wettbewerbsnachteilen führen kann.
medianet: Viele fürchten, dass Jobs durch KI wegrationalisiert werden. Was entgegnet man hierbei aus Ihrer Sicht?
Will: Die Sorge um Jobverluste durch Automatisierung ist und bleibt ein Thema, das wir ernst nehmen müssen. Es ist wichtig, dass wir die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze im Auge behalten und Möglichkeiten finden, die Mitarbeiter weiterzubilden und in neue Rollen zu integrieren.