HEALTH ECONOMY
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Redaktion 05.07.2024

„Das Recht auf gleich gute Behandlung“

Gender-Medizinerin Carolin Lerchenmüller erklärt, warum das Fach – über die Grenzen hinweg – medizinisch und wirtschaftlich relevant ist.

••• Von Evelyn Holley-Spiess

Laut Bericht des Weltwirtschaftsforums verbringen Frauen um 25% mehr Lebensjahre in schlechter Gesundheit als Männer. Eine dänische Studie zeigte, dass Frauen bei mehr als 700 Krankheiten später eine Diagnose erhalten als Männer. Doch auch bei Männern gibt es Gender-Lücken: Osteoporose gilt als Frauenkrankheit, weshalb sie bei Männern oft nicht diagnostiziert wird. Carolin Lerchenmüller hat vor Kurzem den ersten Lehrstuhl für Gender Medicine in der Schweiz übernommen. Bei einem Wien-Besuch erklärt sie, warum dieses Fach – über die Grenzen hinweg – medizinisch und wirtschaftlich gleichermaßen relevant ist.

medianet: An der Universität Zürich wurde nun der erste Lehrstuhl für Gender Medicine in der Schweiz besetzt. Warum haben Sie sich beworben, was hat Sie angetrieben?
Carolin Lerchenmüller: Ich bin Kardiologin und Grundlagenwissenschaftlerin, traditionell ein recht männerdominiertes Feld. Ich denke, dass es wichtig ist – wie in allen anderen medizinischen Feldern, wo wir evidenzbasiert arbeiten wollen –, eben auch diverse Teams zu bilden, die dann diverse Blickpunkte einnehmen. So kam ich zur Gender Medicine. Ich habe verstanden, dass eine fehlende Chancengerechtigkeit in der Medizin, die auch ich gesehen und zum Teil gespürt habe, durchaus eine gerechte Medizin verhindert.

medianet: Wo orten Sie den allergrößten Nachholbedarf punkto Gender Medicine – sowohl medizinisch als auch politisch? Wo drückt der Schuh am stärksten?
Lerchenmüller: Ich denke, dass es jetzt einfach wichtig ist, noch stärker auf das Thema aufmerksam zu machen. Manchmal kann man es sich ja gar nicht erklären, warum es für viele Leute noch so neu ist, dass man Geschlechterunterschiede betrachtet. Aber ich beobachte es nicht nur in der Wissenschaft und in der Klinik, sondern auch im privaten Umfeld, dass sich die Menschen noch gar keine Gedanken darüber gemacht haben. Es gibt also großen Nachholbedarf – sowohl in der Klinik als auch in der Forschung wie auch in der Lehre. Ich denke, die nächste Generation wird diesbezüglich ein anderes Selbstverständnis haben. Ich fasse das immer gerne so zusammen: Wir müssen uns auf die Grundrechte und die Gesetze für Gleichstellung und Chancengerechtigkeit besinnen, die für uns ja eigentlich selbstverständlich sind. Bei einem so wichtigen Thema wie Gesundheit merken wir aber, dass wir das gesellschaftlich noch nicht so richtig durchdacht haben. Wir alle haben das Recht auf eine gleich gute Behandlung. Wir müssen uns fragen: Wo haben wir aktuell den größten Nachteil in der Behandlung und wo müssen wir entsprechend forschen? Das sehe ich als eine der wesentlichen Aufgaben, die die Gender Medicine jetzt zu lösen hat – zusammen mit anderen Disziplinen wie der Ökonomie und auch der Soziologie.

medianet: Stichwort Ökonomie – was bedeutet diese Ungleichheit in der medizinischen Versorgung, die aktuell vor allem Frauen betrifft, eigentlich wirtschaftlich? Was ‚leisten‘ wir uns als Gesellschaft, wenn die Hälfte der Bevölkerung nicht adäquat versorgt wird?
Lerchenmüller: Es gibt zu diesem Thema einen Report vom World Economic Forum, der von McKinsey erstellt worden ist. Dort wurde versucht, mittels Hochrechnungen darzustellen, was es bedeuten würde, wenn man diesen Health Gap – also die Lücke in der Gesundheitsversorgung der Frauen – schließt. Die Grundannahme war dabei, dass Frauen zwar länger leben, aber mehr Zeit ihres Lebens in schlechterer Gesundheit oder Krankheit verbringen und dadurch zum Beispiel aus dem Arbeitsleben herausfallen. Der Report kommt zu dem Schluss, dass die Gesellschaft weltweit jedes Jahr eine Billion Dollar sparen könnte beziehungsweise mehr zur Verfügung hätte, wenn wir dieses Thema besser
adressieren würden, sodass Frauen länger in Gesundheit leben. Der Zeitrahmen wurde bis 2040 eingezogen. Also ja: Wir leisten uns viel. Es sollte auch ökonomisch das Bestreben sein, besser in diese Richtung zu forschen.

medianet: Gibt es auch ein konkretes Beispiel aus der Medizin?
Lerchenmüller: Ja. Es gab in den USA zwischen 1997 und 2000 die Situation, dass tatsächlich acht zugelassene Medikamente vom Markt genommen werden mussten, weil Frauen im Zuge der Einnahme mit einem größeren Gesundheitsrisiko konfrontiert waren. Die Arzneimittelnebenwirkungen waren viel stärker – so stark, dass die Medikamente eingezogen wurden. Das kostet natürlich die Pharmaindustrie und auch den Steuerzahler, der die Entwicklung ja mitträgt, viel Geld. Die Medien haben damals berichtet, dass es um ungefähr 1,6 Milliarden Dollar pro Medikament geht. Das sind enorme Dimensionen.

medianet: Als Kardiologin bearbeiten Sie eine der großen Versorgungslücken. Der Herzinfarkt wurde in der öffentlichen Diskussion zum Paradebeispiel dafür, dass Symptome bei Frauen und Männern sehr unterschiedlich ausfallen können – und Diagnose wie auch Behandlung stark beeinflussen. Warum ist das so?
Lerchenmüller: Die Kardiologie ist ein wichtiges Feld, hier haben wir eben schon genauer hingeschaut, und es zeigt sich, wie lange es von der Entdeckung von Unterschieden bis zur Umsetzung in den klinischen Leitlinien braucht. Das dauert zum Teil Jahre oder gar Jahrzehnte.

medianet: Das heißt abschließend – ohne zu pessimistisch klingen zu wollen: Es werden noch Jahre vergehen, bis Frauen generell eine medizinisch gleich gute Behandlung erhalten wie Männer?
Lerchenmüller: Ja, das wird ein längerer Prozess sein. Denn wir wollen uns in der Medizin darauf berufen, dass wir qualitativ sehr hochwertige Studien
anfertigen, um daraus auch sichere Leitlinien ableiten zu können. Und das braucht einfach Zeit.

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