••• Von Ina Karin Schriebl
Den Kulturpessimismus des deutschen Bestsellerautors Manfred Spitzer kann man auf einen einfachen Nenner bringen: Früher war alles besser, heute geht alles, insbesondere die Gesundheit, den Bach hinunter – und Schuld daran ist die Digitalisierung unseres Alltags.
Nach zwei in der wissenschaftlichen wie in der Medienwelt sehr kontroversiell diskutierten Anläufen zeigt der renommierte Gehirnforscher in seinem neuen Buch „Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert”, in welchem Maß die Informationstechnologie unsere Gesundheit bedrohen soll: Wir würden cyberkrank, wenn wir den digitalen Medien die Kontrolle aller Lebensbereiche überantworten, stundenlang online Games spielen und in Sozialen Netzwerken unterwegs sind. Stress, Empathieverlust, Unbeweglichkeit, Übergewicht, Immunschwäche, Depressionen sowie Schlaf- und Aufmerksamkeitsstörungen seien die Folgen. Kinder würden in ihrer Motorik, Sprachentwicklung und Wahrnehmungsfähigkeit geschädigt. Computersucht, Internetkriminalität und Mobbing verbreiteten sich immer mehr. Am Ende dieser Entwicklungsspirale stünden auch Ängste, Fehlinformation und falsches beziehungsweise unzureichendes Wissen.
Skrupelloser Kommerz
Der 1958 geborene Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik und des Transferzentrums für Neurowissenschaften in Ulm warnte schon 2005 in seinem Buch „Vorsicht Bildschirm” mit Bezug auf aktuelle statistische Mediennutzungsdaten von Schülern in Deutschland vor dem zunehmenden Konsum elektronischer Medien durch Kinder und Jugendliche, der zu einer nur sehr oberflächlichen Beschäftigung mit Informationen führe und zulasten des eigenen, aktiv tätigen Lernens gehe. Wie ein Muskel werde auch das Gehirn nur dann trainiert, wenn man es wirklich fordere.
2012 legte Spitzer dann mit seinem Buch „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen” nach; darin wendet sich der promovierte Mediziner und Philosoph sowie diplomierte Psychologe vehement gegen Initiativen von Politik und Industrie, alle Schüler mit Notebooks auszustatten und die Computerspiel-Pädagogik zu fördern. Diese Initiativen zeugten entweder von blankem Unwissen oder skrupellosen kommerziellen Interessen. Denn zahlreiche wissenschaftliche Studien stellten den digitalen Medien als Lernmittel ein miserables Zeugnis aus. Soziale Online-Netzwerke lockten mit virtuellen Freundschaften, doch in Wirklichkeit beeinträchtigten sie das Sozialverhalten und förderten Depressionen.
Schon damals stellten etliche Medienpsychologen Spitzers Thesen zur „Digitalen Demenz” entsprechende Meta-Analysen zu den Auswirkungen digitaler Medien gegenüber. Diese widersprächen den vom Autor behaupteten entwicklungsschädlichen Auswirkungen des Internets: Laut diesen Analysen führe intensive Internetnutzung weder zu weniger sozialem Austausch, noch zu weniger gesellschaftlich-politischem Engagement; auch seien intensive Internetnutzer keinesfalls einsamer als Wenignutzer.
Mit seinem aktuellen Buch „Cyberkrank” legt der Warner noch eins drauf – wenngleich er unumwunden zugibt: „Die Dosis macht das Gift.” Anhand etlicher wissenschaftlicher Studien – viele davon aus Taiwan oder Korea und etliche davon nur mit einer bescheidenen Teilnehmerzahl – stellt er Verbindungen zwischen stoffgebundenen Süchten wie beispielsweise Heroinabhängigkeit und der nicht-stoffgebundenen „Cyber-Sucht” her: mit allen daraus resultierenden Krankheitsbildern. Und da, wo er keine Studien zitiert, versucht Spitzer mit dem wissenschaftlichen Absolutheitsanspruch seiner Profession zu überzeugen: „Fernsehen macht tatsächlich dick, dumm und aggressiv. Wer behauptet, dass dies nicht der Fall sei, der leugnet wissenschaftliche Tatsachen – etwa wie jemand, der behauptet, die Erde sei eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht.” Dem Neurowissenschafter geht es in „Cyberkrank” aber nicht um den Fernseher, sondern um das „Schweizer Taschenmesser des Informationszeitalters”: um das Smartphone.
Immerhin: In der digitalisierten Welt seien bereits 1,2 Millionen Drei- bis Achtjährige regelmäßig online – mitunter Kinder, die noch nicht einmal lesen oder schreiben könnten. Mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung hätten bereits Zugang zum mobilen Telefonnetz und nutzten dies auch regelmäßig.
Verantwortungsbewusstsein
Spitzer verweist in seinem Buch freilich auch auf sinnvolle und segensbringende Aspekte der neuen Technologie, allein – einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Smartphone und den Besuchen im Internet traut er niemandem zu. Dies begründet er anhand einer Analogie: „Bei der Frage ‚Esse ich jetzt Vanilleeis oder lebe ich lieber einen Tag länger?' entscheiden sich nahezu alle Menschen für das Eis.” Bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 16 Jahren sei dies besonders gefährlich, denn deren digitaler Medienkonsum habe sich inzwischen auf täglich rund 7,5 Stunden erhöht. „Machen wir uns nichts vor”, konstatiert Spitzer: „Es besteht immer die Möglichkeit, dass digitale Informationstechnologie der körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Entwicklung junger Menschen Schaden zufügt und zudem Sucht erzeugen kann. Dies ist nachgewiesen.”
Vielfache Auswirkungen
Die Mechanismen, die dazu führten, seien vielfältig und addierten sich zu „Anschlägen” zunächst auf Grob- und Feinmotorik, Sensorium, Empathie- und Sprachentwicklung sowie später auf die „Entwicklung von exekutiven Funktionen – also von Selbstkontrolle, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, Willensstärke und der Fähigkeit, eigene Pläne zu entwickeln und in die Tat umzusetzen”. Dies führe im kognitiven Bereich zu Unaufmerksamkeit und mangelnder Bildung, im sozio-emotionalen Bereich zu Unzufriedenheit, Angst, Depression, Mangel an Empathie, Einsamkeit und Stress, wodurch eine Reihe von Krankheiten entstünde.
Und warum geschieht nichts? „Weil eine übermächtige Lobby der reichsten Firmen der Welt ganze Arbeit leistet”, erklärt Spitzer – besonders mit Werbung. „Täglich werden wir belehrt, wie wichtig digitale Medien für unsere Gesellschaft sind, dass daher der frühe Kontakt mit ihnen für den Fortschritt entscheidend sei. Politiker aller Parteien machen mit.” Sogar Medienpädagogen ließen vielfach jegliche Objektivität vermissen, kritisiert er.
Freiwilliger Verzicht
Über mögliche Auswege aus diesem in „Cyberkrank” skizzierten Dilemma hält sich Spitzer jedoch recht bedeckt. Das Schlimmste könnte verboten werden – so wie 14-Jährige ja auch nicht mit dem Auto fahren dürften. Die Förderungen für den Ausbau dieser Technologien mit öffentlichen Geldern könnte überdacht werden. Am sinnvollsten sei jedoch der freiwillige Verzicht – nach dem Motto: „Urlaub vom Handy”. Doch dazu bedürfe es noch mehr Aufklärung.