Customize it! Kunden lieben die „elitäre” Massenware
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PRIMENEWS Paul Blažek 15.04.2016

Customize it! Kunden lieben die „elitäre” Massenware

Mass Customization: Der Markt experimentiert noch, aber Angebot und Nachfrage nehmen bei hochindividuellen Produkten rasant zu.

••• Von Paul Blažek

WIEN. Wer 30.000 € für ein Auto ausgibt, der möchte auch ein paar persönliche Extras. Das gilt umso mehr, wenn ein Käufer für einen Neuwagen 100.000 € oder mehr auslegen will. So ist es schlüssig, dass Autohersteller wie Opel, Ford, Fiat und Seat, die vorwiegend für den Massenmarkt produzieren, ebenso Produkt-Konfiguratoren anbieten wie Premiumhersteller Audi, BMW und Lexus. Und natürlich können auch Kunden des Luxussegments, von Bugatti über Ferrari bis Rolls-Royce, mit Online-Konfiguratoren ihre individuelle Anfertigung in Auftrag geben.

Der Configurator Database Report, der demnächst in der dritten Ausgabe erscheint, listet dem entsprechend an erster Stelle Autos als am häufigsten verbreitete Produkte, die via Online-Konfiguratoren im wahrsten Sinn des Wortes maßgeschneidert werden können. An zweiter Stelle folgt die Kleidung. Der Report dokumentiert aber auch, wie breit das Thema mittlerweile aufgestellt ist – sowohl im B2C- als auch im B2B-Bereich: Damenhandtaschen, Armbanduhren, Schuhe, Fahrräder, Kosmetika, Spielkarten, Bücher, Computer, Möbel, Türen und ganze Häuser können individuell konfiguriert werden.

Vorreiter Mymuesli

Auch im Food-Bereich setzen Kunden vermehrt auf den eigenen ­Geschmack. Mymuesli ist wohl einer der bekanntesten Anbieter und Trendsetter, der mit Mynussmix, My-Pizza, Mysaftbar, Myswisschocolate oder Meine-Mettwurst viele Nachahmer gefunden hat. Deinsekt, Deinbonbon, Deinetorte und Design-a-tea sind weitere Beispiele dafür, wie beliebt Konfiguratoren im Food-Bereich mittlerweile sind. Die österreichische Traditionsmarke Julius Meinl Kaffee setzt dabei neue Maßstäbe – und bietet mit MyMeinl ihren Kunden sogar die Möglichkeit, den Röstgrad der Bohnen einzustellen und so ein einzigartiges Genusserlebnis zu schaffen.

Der Trend zum Einsatz von Online-Konfiguratoren zeigt einen kontinuierlichen Anstieg. Zum Start der Recherchen im Jahr 2007 konnten wir im Internet 600 Konfiguratoren identifizieren; die erste Publikation des Reports vor drei Jahren enthielt 900, die zweite 970 und die neueste, aktuelle Ausgabe genau 1.050 Webseiten, die ihre eCommerce-Lösungen mit Produkt-Konfiguratoren erweitert haben.
Der Markt ist offenbar noch in einer Phase des Experimentierens. So waren zehn Prozent der Angebote 2014 (exakt 93 von 970) ein Jahr später nicht mehr verfügbar. Anderseits wurden 2015 insgesamt 173 neue Konfiguratoren eingeführt, das ist ein Zuwachs von 18%. Die Fahrzeugbranche zeigt im aktuellen Jahresvergleich den stärksten Zuwachs, von 58 auf 87 Konfiguratoren. Das ist ein Zuwachs von 52% bei geringer Fluktuation (nur zwei Prozent wurden eingestellt).
Für Schuh-Hersteller sind Konfiguratoren offenbar eine besonders große Herausforderung: 21% der Angebote sind wieder vom Markt verschwunden, aber 33% sind neu dazugekommen. Sportausrüstungen halten sich mit 13% Plus und 14% Minus in der Waage. Accessoires (17% Plus/13% Minus), Bekleidung (12% Plus/7% Minus), Food (17% Plus/10% Minus) sowie Haus und Garten (33% Plus/13% Minus) haben unterm Strich deutlich zugelegt.

Klasse oder Masse? Kein Thema

Die Theorie, wonach Unternehmen für ihre Produkte die Entscheidung zwischen Klasse oder Masse treffen müssen, wird durch Mass Customization einem Paradigmenwechsel unterworfen. Früher waren maßgeschneiderte und beratungsintensive Produkte logischerweise teurer als Produkte aus der Massenfertigung. Mit dem Siegeszug der digitalen Kommunikation ist jedoch das Erfassen und Automatisieren der individuellen Kundeninformation in der Produktion möglich geworden.

Mit Mass Customization greifen zwei Wirkungsfelder ineinander: Auf der einen Seite stehen Konfiguratoren, die einfach über die Website des Anbieters bedient werden können. Auf der anderen Seite stehen Produktionsprozesse, die mit neuen Technologien wie 3D-Druckern und direkter Ansteuerung der Produktionsmaschinen dazu führen, dass Individualprodukte zum gleichen Preis hergestellt werden können wie Massenware.
Drei Dimensionen der Produkt­individualisierung können unterschieden werden:

Form oder Cosmetic Customization: im Wesentlichen eine Produktveredelung (z.B. Applikationen bei einem T-Shirt, Laser- Gravuren von Kundennamen bei Produkten).
Functional Customization: Anpassung von Produktkomponenten nach gewünschten Funktionen (z.B. Anpassung der Komponenten in einem Computer, die Farbe, Materialien, etc. bei Autos, auch die Müslimischung nach persönlichen Vorlieben).
Fit Customization: auf individuelle Körper- oder Raummaße abgestimmte Produkte (z.B. in der Bekleidungs- oder in der Möbelindustrie).

Finanzieller Mehrwert

Unternehmen treffen heute auf einen selbstbewussten, oft auch fordernden Käufer. Durch die Anpassung an persönliche Bedürfnisse erhöht sich die Käuferidentifikation, und der wahrgenommene Wert des Produkts ist im Vergleich zu einem Massenprodukt deutlich höher. Weiters steigen Empfehlungsbereitschaft, Wiederkaufbereitschaft und Loyalität bei den Käufern. Sie agieren mitunter sogar als Multiplikatoren für ein Unternehmen und dessen Produkte. Der Kunde ist aufgrund der Individualisierung auch bereit, mehr zu zahlen. Im Idealfall wird das individuelle Produkt aufgrund der modernen Fertigungstechnologie aber zum gleichen Preis des Massenprodukts hergestellt, so lukriert das Unternehmen einen finanziellen Mehrwert.

Auf der Nutzerseite können die vielen Angebote und Wahlmöglichkeiten, manchmal auch die schlechte Usability von Konfigurationen, zu einer Überlastung führen. Der auch als Mass Confusion bezeichnete Effekt tritt ein, wenn der Nutzer mit einer verwirrenden Vielzahl an Individualisierungsoptionen alleingelassen wird. Unternehmen müssen daher mit der Bereitschaft der Kunden zur Partizipation an der Produktentwicklung richtig umgehen. Der Entscheidungsraum, den ein Konfigurator bietet, muss genau durchdacht werden.

Gigantische Potenziale

Mass Customization – übersetzt als kundenindividuelle Massenproduktion – rückt die unternehmerische Wahrnehmung des Kunden von einer Social Media-Dialog-ebene tief in die Dimension eines eigenständigen Produktgestalters. Anders gesagt: In der Differenzierung stecken gigantische Potenziale. Viele Unternehmen bekommen dadurch die Chance, neue Qualitäts- und Alleinstellungsmerkmale in ihre Produkte einzubringen. Gerade im Zeitalter der aus Nutzersicht austauschbaren Massenprodukte und Plagiate führen ­unverwechselbare Produkte, die nicht kopiert werden können, zu einem großen Wettbewerbsvorteil.

Der Paradigmenwechsel führt letzten Endes zum Aufbrechen geschlossener Innovationsprozesse, der Nutzer wird zum Co-Innovator. Ich bin überzeugt, dass Konsumenten die Individualisierung zu einem neuen Standard in den Produktwelten erheben. Doch auf dem Weg zur Steigerung der Kundenloyalität und der Internet-Verkäufe gibt es auch Stolpersteine.
Mass Customization hat das Potenzial, eine disruptive Veränderung in der gesamten wirtschaftlichen Produktion und dadurch in der unternehmerischen Arbeitswelt hervorzurufen. Die Herausforderung aus unternehmerischer Sicht besteht darin, den Nutzer als mündigen Kunden in die Produktentwicklung einzubinden; dafür müssen dann auch die richtigen Schnittstellen geschaffen werden.
Viele Unternehmen basteln selbst Konfiguratoren und unterschätzen die Komplexität der Integration in bestehende eCommerce-, ERP- und Social-Media-Lösungen. Die Folge bei diesen Projektumsetzungen sind explodierende Kosten, verzögerte Abwicklung bis hin zum Scheitern der Projekte.


Der Configurator Database Report 2015 ist demnächst über Amazon und den Buchhandel erhältlich. Als Angebot für
medianet-Leser erfolgt eine Gratis-Zusendung als eBook bis Ende April auf Mailanfrage: [email protected]

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