Die Offliner.  Eine Typologie
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MARKETING & MEDIA Redaktion 22.09.2015

Die Offliner. Eine Typologie

Die Digitalisierung hat eine Reihe von Gegen­bewegungen hervorgebracht. Joël Luc Cachelin hat sie für GDI-Impuls erkundet.

••• Von Joël Luc Cachelin

Wie kein anderer Mega­trend wird die Digitalisierung unsere Zukunft prägen. Das Internet formt eine zweite Dimension des Seins, wobei die analoge und die digitale Welt in den nächsten Jahren noch viel stärker miteinander verwachsen werden. Bei der Zivilisierung des digitalen Raums entstehen Spiegelbilder: von der Website für das Restaurant über die LinkedIn-Seite für die berufliche Biografie bis zum ausdifferenzierten Sexprofil. In der nächsten Etappe der Digitalisierung werden auch unsere Möbel, Brillen, Zahnbürsten, Autos und Kleidungsstücke Teil des Internets. Dadurch dringt es noch tiefer in unseren Alltag ein.
Folge der Digitalisierung sind sowohl eine Intensivierung der technischen, ökonomischen und sozialen Vernetzung als auch eine Zunahme der Daten. Je nach Blickwinkel sind diese digitalen Schatten Ausgangspunkt einer intelligenteren Nutzung unserer Ressourcen – oder der Errichtung einer globalen Überwachungsgesellschaft.

Einfach und intensiv leben

Motor der Digitalisierung ist zum einen die Sehnsucht nach einem einfachen und intensiven Leben. Wir lernen Menschen mit ähnlichen Interessen kennen, brauchen nichts mehr auswendig zu lernen, wissen in Sekunden, wann der nächste Zug fährt, und greifen jederzeit auf ein riesiges Film-, Musik- und Literaturangebot zu. Zum anderen wird die Digitalisierung durch politische und ökonomische Akteure bewusst vorangetrieben. Sie wollen nicht weniger als die Herrschaft über den digitalen Raum erlangen. Treibend wirken jene, die Soft- und Hardware, digitale Inhalte und Infrastruktur herstellen, sowie jene, die die entstandenen Datensätze kontrollieren. Big Data ermöglicht Verhaltensprognosen, die Individualisierung von Kommunikation, Angeboten und Preisen sowie die Erschließung. neuer Geschäftsfelder mit den gewonnenen Einsichten.
Facebook kann immer mehr Gesichter einer Identität zuordnen. Partnerbörsen wissen, welche Singles am beliebtesten sind. Deshalb werden die Daten auch als das Öl der Zukunft bezeichnet. Die Digitalisierungstreiber spannen ein globales System auf, das sich über mehr und mehr Aspekte unseres Alltags erstreckt. In Anlehnung an den Film der Wachowski-Brüder nenne ich es Matrix.

Zivilisierung in der Matrix

Die Matrix gibt das Design der technischen Umwelt ebenso vor wie dasjenige der Wirtschaft, der Bildung und der sozialen Sicherungssysteme. Dabei nimmt die Wirtschaft eine Schlüsselrolle ein, werden doch in einer säkularisierten, individualisierten und ökonomisierten Gesellschaft fast alle Entscheidungen mithilfe des Marktprinzips getroffen. Eigentlich ist die Konstruktion der Matrix eine politische Aufgabe, die uns alle betrifft. Doch angesichts der Macht einiger Akteure entpuppt sich das demokratische Design dieser Matrix als Utopie. Mehr noch: Sie integriert technische, ökonomische, politische und militärische Einflussnahme, wodurch die Digitalisierungstreiber immer dominanter werden. Zwar tragen wir alle etwas zur Verdichtung der Matrix bei, doch es ist eine kleine Elite, die in großem Stil von der Zivilisierung des digitalen Raums profitiert.
Je mehr die Digitalisierung fortschreitet, je umfassender und feingliedriger die Matrix wird, je mehr digitale Schatten wir hinterlassen, je mächtiger die Digitalisierungstreiber werden, je verpflichtender der Aufenthalt im digitalen Raum wird, je stärker auf sozialer und ökologischer Ebene die negativen Folgen der Digitalisierung spürbar sind, desto mehr Widerstand regt sich. Er umfasst alle Argumente, Bestrebungen und Ereignisse, die Zweifel an einer selbstverständlichen und weitergehenden ­Digitalisierung zum Ausdruck bringen.  In der Logik des Gegentrends werden die Digitalisierung und ihre Nebenwirkungen zum Anlass für Individuen, Gemeinschaften, Institutionen und Staaten, sich dem Einfluss der Digitalisierungstreiber zu entziehen und sich für alternative Lebensweisen jenseits einer hyperdigitalen Zukunft einzusetzen.
Im Schatten der digitalen Leitkultur formiert sich eine Gegenkultur. Wie einst die unterdrückten Kolonien kämpft sie um Aufmerksamkeit und strebt nach einer Machtkorrektur. Diese Gegenkultur wird hier Offliner genannt. Deren Träger setzen sich für multipolare Machtverhältnisse, reziproke Transparenz, Entscheidungsfreiheit, eine Vielfalt der Lebensstile und soziale Integration ein. Die Bewegung richtet sich weniger gegen die Digitalisierung an und für sich, als vielmehr gegen deren technische, soziale, ökonomische und ökologische Neben­wirkungen.

Digital Fremdbestimmt

Für die Offliner ist nicht die digitale Zukunft störend, sondern die Art und Weise, wie uns die Herrscher des digitalen Raums in eine hyperdigitale Zukunft führen. Sie wehren sich gegen eine fremdbestimmte Digitalisierung, in der ihre Anliegen und Bedürfnisse keine Bedeutung haben. Die Offliner wollen also nicht auf das Internet verzichten, im Gegenteil, sie sind häufig sogar online sehr aktiv. Aber die Offliner rebellieren gegen die selbstverständliche, alternativlose Digitalisierung, den autoritären Designprozess der Matrix und die Herrschaft der Digitalisierungstreiber. Ziel der Offliner ist nicht die digitale Abstinenz, Ziel ist die Beteiligung am Design der Matrix. Während die einen entschleunigen wollen, steht für andere die Nachhaltigkeit, der kulturelle Verfall, die Kritik an Globalisierung und Kapitalismus oder die Verhinderung der Verschmelzung von Mensch und Maschine im Vordergrund. Für die einen ist „offline“ ein politisches Statement, für andere eine Gelegenheit, um neue Märkte zu erschließen. Diese Heterogenität ist typisch für eine Gegenkultur, schwächt aber zugleich den Widerstand. Je mächtiger die Digitalisierungstreiber sind, desto entscheidender wird die Frage, ob die Fraktionen einst zu einer geschlossenen Bewegung zusammenwachsen und welche Formen der Widerstand annehmen wird. Denkbar ist die Organisation als politische Partei, als Terrornetzwerk oder als Aussteigerbewegung. Finden die Offliner keinen Konsens, droht ein globales Chaos, in dem Onliner, aber auch Offliner selbst gegeneinander kämpfen – oder eine digitale Monokultur mit einer Matrix, der niemand entkommen kann.

Die Rolle des Designs

Das Verhältnis von on- und offline ist zwar eine Frage der persönlichen Lebensgestaltung, doch auf gesellschaftlicher Ebene entscheidet das Design der Digitalisierung, wie wir in Zukunft leben werden. Es definiert die zentralen politischen Fragestellungen der nächsten Jahrzehnte und mit ihnen die neuen politischen Lager. Wer die bevorstehenden geopolitischen Entwicklungen, aber auch die Märkte der Zukunft verstehen will, tut gut daran, sich intensiv mit den Offlinern zu beschäftigen. Im Folgenden werden 16 unterschiedliche Typen von Offlinern beschrieben, von denen jeweils vier wiederum einer eigenen Fraktion zugeordnet werden (siehe Gliederung rechts.)

Die wirtschaftliche Fraktion

Die Verlierer
Immer wenn eine neue Technologie die Wirtschaft tiefgreifend verändert, formiert sich Widerstand. Man befürchtet, dass die Maschinen Arbeitsplätze zerstören und die Menschen verdrängen. Die Digitalisierung stößt jenen besonders sauer auf, die Status, Einkommen, Macht oder Besitz verlieren.

Die Kapitalismuskritiker
Sie lehnen die Digitalisierung ab, weil sie das kapitalistische System stärkt. Die digitale Transparenz macht Bedürfnisse, Mediengewohnheiten und Arbeitsleistungen transparent. Mit den gewonnenen Daten werden wir zum Konsum verführt und die Preise unserem Portemonnaie angepasst.

Die Non-Liner
Es gibt drei Gruppen von Menschen, die keinen Zugang zum Internet haben: die Bildungsfernen, die Alten und die global Abgeschnittenen. Aufgrund des exponentiellen Verlaufs der Digitalisierung nimmt der Unterschied zwischen Onlinern und Nonlinern ständig zu.

Die Globalisierungskritiker
Sie lehnen die sozialen und ökologischen Folgekosten der Digitalisierung ebenso ab wie die zentralen Machtstrukturen. Für die einen steht die Reduktion der kulturellen Vielfalt im Vordergrund, für die anderen der Missbrauch armer Länder oder die gestiegene Mobilität.


Die politische Fraktion

Die Nationalisten
Das Internet bedroht die heimische Wirtschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Durch Überfremdung haben das Traditionelle und das Einheimische keinen Platz mehr. Man hat Angst vor unkontrollierbaren Einflüssen, fühlt sich der Macht größerer Systeme ausgesetzt und ist in seiner Identität verunsichert.

Die Situationisten
Sie stören sich an der Diktatur von Raum und Zeit genauso wie an der Normierung des Denkens. Das Internet ist die perfekte Maschine, um die Meinungsvielfalt zu reduzieren, den Zufall zu vermeiden und kritisches Denken zu unterbinden. Zensur und Propaganda normieren unsere Ideale und Visionen.

Die Datenschützer
Je mehr und je länger wir im Internet surfen, desto umfassender werden unsere digitalen Schatten. Das Internet der Dinge sowie intelligente Brillen, Uhren oder Armbänder werden die Datensätze weiter wachsen lassen. Datenschützer wollen nicht, dass wir zu gläsernen Kunden, Bürgern, Patienten und Schülern werden.

Die Selbstverwalter
Sie stören sich an den Machtzentren des Internets. In den Knoten des Netzwerks fließen die Währungen einer digitalen Gesellschaft zusammen: Geld, Information und soziale Kontakte. Je größer die Knoten, desto mehr soziales, kulturelles und finanzielles Kapital vereinen sie.


Die technologische Fraktion

Die Paranoiden
Die Verlagerung ins Digitale fördert kriminelle Energie. Im Unterschied zum realen Raum sind Gefahren und Täter meist unsichtbar. Die diffuse Risikolage mündet in eine diffuse Angst vor Überwachung, Manipulation, Diebstahl, aber auch vor einem Zusammenbruch des Systems.

Die Entschleuniger
Das Internet ist der wichtigste Treiber der Beschleunigung. Wir sind gehetzt, wobei uns keine Zeit für die Dinge bleibt, die uns wirklich wichtig sind. Das Multitasking führt zur Erschöpfung, innerer Unzufriedenheit und hindert uns daran, die wahren Zusammenhänge zu erkennen.

Die Anti-Transhumanisten
Man kann die Digitalisierung als evolutionäre Kraft lesen, die Mensch und Maschine verschmilzt. Einerseits wird der Mensch durch technisches und geistiges Enhancement immer mehr zur Maschine. Andererseits wird die Maschine so unauffällig, dass wir sie gar nicht mehr als Maschine wahrnehmen.

Die Nachhaltigen
Sie lehnen die Digitalisierung ab, weil sie die Lebensgrundlage künftiger Generationen zerstört. Vor allem die produzierten Abfälle und der hohe Energiebedarf der digitalen Geräte sind störend. Die Nachhaltigen bekämpfen digitale Update-Zwänge, die uns zum Kauf immer neuer Geräte zwingen.


Die soziale Fraktion

Die Romantiker

Als die Welt noch nicht digital war, hatte man noch Zeit füreinander und musste sich nicht alle Optionen offen lassen. Die Digitalisierung führt zu Dematerialisierung und zur Verdrängung des Realen durch die Simulation. Immer mehr Erlebnisse sind medial unterstützt oder nur noch durch die Medien vermittelt.

Die Einsamen
Sowohl zu wenig als auch zu viel Digitalisierung ruft das Gefühl hervor, allein auf der Welt dazustehen. Während den Unterdigitalisierten Geld, Know-how und Mut fehlen, um mit anderen in einen digitalen Kontakt zu treten, leiden die Überdigitalisierten an einem Manko an menschlicher Nähe.

Die Gottesfürchtigen
Das Web installiert eine neue Metaphysik mit Aussicht auf ein unendliches Leben im Netz. Die Menschen vertrauen nicht mehr in Gott und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Die Gottesfürchtigen sehen im Web zudem einen Katalysator des Sittenzerfalls, der zu Lust, Neid und Selbstsucht anstiftet.

Die Kulturpessimisten
Für die Kulturpessimisten verhindert das Internet gehaltvolle Kultur und Bildung. Die Vervielfältigung der Information provoziert eine Beliebigkeit des Wissens. Experten werden durch ahnungslose Crowds ersetzt. Es gibt nur noch Halbwissen, und alles ist eine Frage der Perspektive.








 

 

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