Wie weit darf Linz gehen?
© Jürgen Grünwald
MARKETING & MEDIA Gastkommentar 12.08.2021

Wie weit darf Linz gehen?

Ein markentechnisches Statement zur Kontroverse über die aktuelle Provokationskampagne im Tourismus.

Gastkommentar von Christian Schölnhammer, Gründer von Brand+

LINZ. Früher hieß es in der Werbung „In Linz beginnt’s …“. Dann titelte man „Linz eine Stadt lebt auf" und bis heute „Linz verändert“. Und weil sich so viel verändert, versucht sich die Tourismuswerbung auch an der Veränderung von Werbekonventionen. Deshalb heißt es im brandneuen Kampagnenspot „Linz ist Linz“ durchaus auch „Linz ist out“, „… ist ein Dorf“ oder „… ist eintönig“. Damit macht der Linzer Tourismusverband seit einigen Tagen gehörig von sich reden. Wir analysieren die Pro und Contra und leiten einige Prinzipien für mehr Mut mit der Marke heraus.

Die Kontroverse
Im Streetlife Doku-Stil kommen junge und alte Menschen zu Wort und äußern sich über ihre Stadt, sehr direkt, keck aufgemacht. Darunter befinden sich auch teils verwirrende Szenen und Aussagen wie „ist eine Stadt für Senioren“, „altmodisch“, „bisschen rassistisch“. Dann folgen Porträtschnitte mit Protagonisten, die für charmant, liebenswert usw. stehen sollen. Das Ganze mit einer gewagten Portion schräger Ironie und Schrulligkeit.

Damit versucht sich Linz als authentischer Underdog unter den österreichischen Destinationen zu positionieren und sich von den Top-Pipifein-Eldorados abzugrenzen. Als Normalo möchte man möglichst viele Normale anziehen. Dafür geht die Produktionsfirma Forafilm keinen normalen Weg. Definitiv hebt sich das Produzierte vom allseits gewohnten Imageeinheitsbrei im Tourismus ab, der sonst nichts weiter als kommunikatives Rauschen bewirkt.

Wie es der Zufall will, erreicht nahezu zeitgleich ein weiterer audiovisueller Beitrag das Licht der Linzer Welt, ebenfalls von öffentlichem Interesse, allerdings ein politisches Werk, das wie ein Kontrapunkt zum Tourismusvideo daherkommt. Mit dem Titel „Mein Herz schlägt für Linz“ versucht es sich in die oberösterreichische Massenseele einzuschleimen und stellt das Promo-Video für den amtierenden Bürgermeister Klaus Luger dar.

Es beginnt mit „Wenn ich durch deine Straßen geh‘ …“. Anmerkung: Auch unzählige andere Straßenfeger begannen mit „I‘m walking down the street …“ und wurden zu Welthits. Unglaublich wird es dann mit dem Refrain „Mein Herz schlägt Linz“ (man bemerke den feinen Wortwitz: „Linz“ statt „links“), und wenn Schlager nicht schon erfunden wären, dann wären sie es spätestens mit diesem Titel.

Aufgrund von so viel unterschiedlicher Auffassung innerhalb der eigenen Stadt wundert es nicht, wenn der Bürgermeister den neuen Tourismusspot gar nicht gut findet. „Das ist nicht mein Linz“, sagte er. Der Tourismusdirektor Georg Steiner steht aber hinter seinem aktuellen Artwork.

Direkt unter dem Facebook-Posting der OÖNachrichten haben bis 9. August 2021 nachmittags 356 Leser kommentiert, auf YouTube wurde das Video seit 4. August 249.626 Mal aufgerufen. Gespaltener könnten die Meinungen nicht sein. Allerdings beträgt das Verhältnis von Likes zu Dislikes 6.272 zu 570 – also ein eindeutiger Überhang der Sympathisanten.

Um die Qualität der Aktion zu bewerten, ist das bloße Geschmacksurteil jedoch nicht zielführend. Es sind vielmehr die markentechnischen Implikationen für die Stadtmarke Linz abzuwiegen. Mehrere Reaktionen darauf sind möglich – die kopflose, die konservative und die kontemplative. Auf alle drei Blickwinkel gehen wir ein.

Der kopflose Reflex
Kopflos könnte man argumentieren, dass es sich um ein überfällig klares Statement handelt und sich der Spot aufgrund seiner medialen Verbreitung für Linz auszahlen wird.

Zweifelsohne handelt es sich bei Linz nicht um einen absoluten Tourismusmagneten, ein internationales Must to go. Dafür fehlen der Stadt mit der Industrie-Heritage einfach der gute Ruf und auch die attraktiven Besonderheiten. Was herkömmlich in so einer Situation getan wird, machen viele Städte und Destinationen vor: Da werden profillose Imagefilmchen gedreht, ohne Ecken und Kanten, es regiert der Durchschnitt. Hier hingegen wurde etwas versucht, was einerseits erfolgversprechend, aber durchaus riskant sein kann: die Steigerung der Bekanntheit durch blanke Aufmerksamkeit.

Denn es sollte nicht der Fehler begangen werden, werbliche Eintagsfliegen unter dem Aspekt ihres Originalitäts- und Unterhaltungsfaktors emporzuheben. Künstlerische Kurzfilme gehören nach Cannes und sollten dort auch bleiben. Die Frage ist also, ob der Werbespot zur Markenstärkung maßgeblich beiträgt oder nicht.

Die konservative Reaktion
So manche fühlen sich beim Beantworten dieser Frage am sichersten auf der Seite der eher Konservativen. So kommentierte Rainer Reichl von der Werbeagentur Reichl und Partner in den OÖNachrichten: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ – und meinte damit, dass der Werbespot psychologisch gesehen in eine total falsche Richtung ginge. Dann ist noch die Rede von negativen Bildern und von einem nachhaltigen Imageschaden für die Stadt.

Es steht außer Frage, dass in diesem Spot auch Negatives thematisiert und sogar inszeniert wird. Allerdings wird dies nicht gemacht, weil man es nicht besser weiß, sondern im vollen Bewusstsein der Überhöhung mit Hoffnung auf Akzeptanz. Ironie ist eine Überzeugungsstrategie, anhand derer versucht wird, mit gefärbter Übertreibung etwas Wahres an den Mann oder die Frau zu bringen. Selbstironie ist also umso legitimer, da der Ironisierende nicht etwas anderes, sondern sich selbst infrage stellt.

Die Frage ist natürlich, ob das so Gemeinte auch beim touristischen Zielpublikum so ankommt wie gedacht. Eine gewisse Unterschiedlichkeit in der Rezeption herrscht sicherlich zwischen den jungen und reiferen Kommentatoren: Während die jüngeren sich eher positiv dazu stellen, sehen es die älteren skeptischer. Aber nicht alle. Die Frage ist, was für welche Alters- und Zielgruppe negativ ist. So wie für einen 20-Jährigen Ganzkörpertattoos inzwischen völlig normal sind, machen sie der Oma dieses 20-Jährigen wahrscheinlich Angst. Vor dem Hintergrund des weichgespülten Imagefilms „Mein Herz schlägt Linz“ erweist sich vielleicht recht vieles als negativ oder nicht ganz opportun.

Die kontemplative Abwägung
Von Kontemplation ist die Rede, wenn man sich geistig in eine Sache hineinversenkt, frei von vorschnellem Urteil. Schauen wir uns an, was ganz objektiv für und was gegen diesen unorthodoxen werblichen Vorstoß sprechen könnte.

Die Initiative hat eine medial große Reichweite erzielt. Das ist schon mal gut, denn damit hat die Stadt Linz auf sich aufmerksam gemacht und Neugier geweckt. Zumindest hat sie das bei den Oberösterreichern und Österreichern geschafft, allerdings ist nicht eingängig geworden, ob und wie systematisch damit in Zukunft handfeste Tourismuswerbung in den Herkunftsmärkten gemacht werden soll.

Man hat versucht, die Tonalität und den Lebensstil der Stadt einzufangen und wiederzugeben. So ein Schachzug ist immer dann eine strategische Option, wenn man nicht die Hosen voll mit Superlativen hat wie z.B. Wien oder Salzburg.

Wir bei Brand+ sprechen von Markenaufbau dann, wenn einerseits Bekanntheit, andererseits aber auch Begehrlichkeit für die Marke erzeugt wird. Bekanntheit ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für Stärke. Schließlich nützt es keiner Marke der Welt, nur bekannt zu sein, aber nicht gewollt zu werden. Dahingehend unterscheiden wir vier Stadien: 1. Wenig bekannt – wenig begehrlich: Die Marke befindet sich ziemlich am Anfang. Wenig ist passiert, weder Positives noch Negatives. 2. Hohe Bekanntheit – wenig Begehrlichkeit: Eine Marke wie Opel kennt jeder, es schätzen sie aber nicht viele. Weil die Marke über wenig Anziehungsenergie verfügt, muss sie viel Auto für wenig Geld anbieten. 3. Wenig bekannt – sehr begehrt: In diesem Stadium sind die sogenannten Hidden Champions zu Hause. Sie werden nicht von vielen gekannt, aber jene, die sie kennen, sind echte Fans. Das ist eine tolle Ausgangsposition.
4. Hohe Bekanntheit und hohe Begehrlichkeit: Perfekt, in diesem Stadium ist die Marke eine Star Brand. Beispiele: Apple, Plachutta in Wien, Barilla für Pasta, Stanglwirt in Kitzbühel.

Die Marke Linz ist mit der besagten Aktion auf dem Weg von Stadium 1 zu Stadium 2. Das bedeutet: Sie hat auf einmalige Weise auf sich aufmerksam gemacht – viel mutiger und einzigartiger als die meisten anderen Städte und Destinationen Österreichs, die sich im Roten Ozean des austauschbaren Tourismus tummeln.

Wenn der eingeschlagene Weg nun intelligent weitergeführt wird und die Assets der Stadtmarke Linz sukzessive ins Rampenlicht gerückt werden, dann lässt sich aus dem momentanen Aufmerksamkeitskorridor etwas Substanzielles entwickeln. Zunächst sollten die Zielgruppen identifiziert werden, die kompatibel mit diesem Wertehorizont und mit der eingeschlagenen Tonalität sind. Dann sollten Spitzenleistungen freigelegt und ausgebaut werden, mit denen die Stadt diese Zielgruppen begeistern und touristisch an sich binden kann. Die erlebte Realität im Urlaub sollte sich schließlich mit der vorgelebten Realität in der Werbefiktion decken.

Außerordentlich raffiniert und überraschend wäre es, wenn das Ganze ein abgekartetes Spiel zwischen den Linzer Protagonisten wäre, insbesondere dem Tourismusverband und der Stadt. Trotz Einigkeit setzte man dann gezielt auf Verwirrung und ließe demnächst die Katze aus dem Sack. Ein Komplott scheinbar Uneiniger, dem dann zu gratulieren sei …

Fazit
Linz Tourismus hat hiermit einen spannenden Akzent gesetzt. Markentechnisch gesehen, wird viel beschworen, dass Image und Identität zur Deckung gebracht werden sollen, was aber nur in seltensten Fällen wirklich erreicht wird. Weil sich schöngefärbte Bilder in der internen Anerkennung meistens durchsetzen. Statt der Schönfärbung wurde hier die Strategie der Selbstironie gewählt, die durchaus sperrig daherkommt und Kontroversen auslöst. Aus der Reibungsenergie zwischen jenen, die dem Lager der Schein-Produktion angehören und jenen, die sich dem Lager der Seins-Konstitution zugehörig fühlen, kann etwas Besonderes entstehen – wenn man es aushält.

In diesem Sinne empfehlen wir die Beweisführung von Einzigartigkeit, Mut, Haltung und Konsequenz auch für andere touristische Regionen, für die bisher nur die Logik des kleinsten gemeinsamen Nenners infrage kam. Statt nichtssagender Kompromisse wie „Natur und Kultur“ oder die Proklamation unspannender „Vielfalt“ sollten ganz neue Versuche gewagt werden, um das Mittelmaß hinter sich zu lassen und neue Monopole in der öffentlichen Psyche zu besetzen.

 

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