Adipositas-Versorgung: Wir müssen reden
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HEALTH ECONOMY Redaktion 06.12.2024

Adipositas-Versorgung: Wir müssen reden

Hohe Kosten und fehlende flächendeckende Strukturen – bei der Adipositas-Versorgung in Österreich gibt es Verbesserungsbedarf.

••• Von Katrin Grabner

Eine aktuelle Analyse des Instituts für Höhere Studien (IHS) zeigt: Adipositas und die Folgeerkrankungen kosten jährlich 4.000 Menschen das Leben, sorgen für über eine Million Krankenstandstage und sind für fast fünf Prozent der Gesundheitsausgaben in Österreich verantwortlich. In Österreich haben 18% der Männer und 15% der Frauen krankhaftes Übergewicht.

Die IHS-Erhebung, die sich auf die im Jahr 2019 erhobene Situation bezieht, ergab Gesamtkosten durch Adipositas von 2,4 Mrd. € in Österreich. Davon entfallen 1,9 Mrd. € auf Gesundheitsausgaben sowie 480 Mio. € auf indirekte Kosten durch Ausfälle auf dem Arbeitsmarkt. Fettleibigkeit verursacht demnach 537.000 Krankenhaustage, 1,2 Mio. Krankenstandstage und trägt zu 5,6% der Invaliditätspension bei.
In den erhobenen Kosten sind informelle Pflegekosten und Pflegegeld, Ausgaben für psychische Belastungen und ein geringeres Einkommen der Betroffenen aufgrund von Diskriminierung und eingeschränkter Berufs-/Arbeitsplatzwahl noch gar nicht einberechnet, betonte Studienautorin Stephanie Reitzinger bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Österreichischen Adipositas Allianz (ÖAA).
Florian Kiefer, Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Stoffwechsel von der Medizinischen Universität Wien und Präsident der ÖAA, sprach mit medianet über konkrete Verbesserungsvorschläge und erklärte, welche Rolle moderne Abnehmmittel in Österreich spielen.


medianet:
Adipositas, also krankhaftes Übergewicht, führt in Österreich zu hohen Kosten und vielen Krankenständen. Was läuft hier falsch?
Florian Kiefer: Punktuell ist die Versorgung in Österreich eigentlich sehr gut, wir haben Zentren, die Spitzenmedizin in diesem Bereich anbieten. Das Problem liegt in der fehlenden flächendeckenden Primärversorgung. Das hat unter anderem damit zu tun, dass das Adipositasmanagement dort als Leistung sehr schwer abbildbar ist. Ein Gespräch mit dem Hausarzt oder der Hausärztin ist im Kassenbereich nicht adäquat verrechenbar, für die Diagnostik und ­Behandlung des Patienten oder der Patientin ist es aber not­wendig.

medianet:
Warum?
Kiefer: Gerade bei Adipositas sind Gespräche zum Lebensstil inklusive Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmanagement von großer Bedeutung. Auch die Einleitung einer medikamentösen Therapie ist relativ zeitaufwendig, da zuvor eine Schulung zur Applikation, Dosistitration und Nebenwirkungsmanagement erfolgen muss. Um die passenden Anlaufstellen koordinieren zu können, braucht es zusätzlich eine bessere Vernetzung unter dem Gesundheitspersonal und Gesundheitseinrichtungen. Nicht zu vergessen: alle konservativen Therapieoptionen inklusive Adipositasmedikamente, Ernährungs- und/oder Bewegungsberatung sind derzeit noch fast ausschließlich Privatleistungen.

medianet:
Das heißt, dass einerseits die Adipositas-Versorgung im niedergelassenen Kassenbereich ausgebaut werden müsste und es gleichzeitig eine bessere Patientenlenkung braucht?
Kiefer: Genau. Es gibt Spezialisten und Spezialistinnen mit Kassenverträgen, auch Kliniken haben Diätologen dabei – aber diese Angebote gibt es dann eben nicht flächendeckend. Es sollte von Anfang an klare, niederschwellige und sozialgerechte Strukturen geben, die von vornherein zeigen, wer die erste Anlaufstelle ist und wie es danach weitergeht. Adipositas verlangt ein multimodales Management aufgrund der vielen Folgeerkrankungen. Es braucht, je nach Situation, ein Team an Hausärztinnen, Stoffwechsel-experten, Psychotherapeuten, Diätologen, Bewegungstherapeuten, Chirurgen und so weiter.

medianet:
Welche konkreten Maßnahmen sollten also auf kurze und auf lange Sicht umgesetzt werden?
Kiefer: Adipositas muss als Erstes von allen Stakeholdern im Gesundheitssystem als chronische Erkrankung anerkannt werden. Krankhaftes Übergewicht wird häufig als etwas Selbstverschuldetes gesehen, etwas, was aufgrund von mangelnder Disziplin entsteht. Das ist schlichtweg falsch. Wissenschaftlich ist klar, dass neben dem Lebensstil auch hormonelle Veränderungen, Genetik sowie psychosoziale Faktoren die Entstehung beziehungsweise das Persistieren der Erkrankung begünstigen. Das muss akzeptiert werden – gesamtgesellschaftlich und auf höchster Ebene. Nur dann können strukturelle Veränderungen gelingen. Die Lungenerkrankung COPD, die häufig durch Rauchen mitausgelöst wird, ist ebenfalls eine chronische Erkrankung; hier hinterfragt dies aber niemand.

medianet:
Und in der Prävention?
Kiefer: Präventionsmaßnahmen müssen gestärkt werden, und zwar schon im Kindesalter. Das fängt an bei der regelmäßigen Turnstunde und der gesunden Jause in der Schule, über das Einbeziehen der Eltern durch gemeinsames Einkaufen und Kochen mit den Kindern bis zu Awareness-Kampagnen. Hier früh anzufangen, ist besonders wichtig, denn es gibt mittlerweile viele Studien, die zeigen, dass jene Kinder, die im Schul-eintrittsalter adipös sind, dies mit einer 80- bis 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene sein werden.

medianet:
Wie sieht es bei der medikamentösen Behandlung aus?
Kiefer: Die medikamentöse Therapie der Adipositas spielt eine wichtige Rolle unterstützend zu Lebensstilmaßnahmen, aber wie bereits erwähnt sind diese Medikamente in Österreich de facto eine Privatleistung. Erst seit wenigen Wochen gibt es erstmals eine Erstattungsregelung eine medikamentöse Therapie (Liraglutid), allerdings nur für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren mit Betreuung in spezialisierten Zentren. Für Erwachsene wird dieses Medikament nur erstattet, wenn sich Patientinnen oder Patienten für eine bariatrische Operation wie beispielsweise einen Magenbypass entschieden haben – und auch dann nur für ein Jahr befristet. Das sind erste Schritte, aber hier müssen wir noch deutlich weiterkommen, da dies nur einen sehr kleinen Teil der Erwachsenen mit Adipositas betrifft.

medianet:
Welche Rolle spielen neue Abnehmmedikamente?
Kiefer: Was die neuen Abnehmmedikamente anbelangt, haben wir derzeit die Situation, dass Menschen aktiv danach fragen. Meiner Meinung nach wird der Stellenwert der medikamentösen Therapie in Zukunft sogar noch weiter steigen, weil derzeit weitere, teils noch potentere Mittel entwickelt werden. Ich denke, dass zukünftig auch stärker individualisierte Therapien dadurch möglich werden.

medianet:
Können die neuen Abnehmmittel ein Ersatz für eine Lebensstiländerung sein?
Kiefer: Nein, das nicht. Beim Management der Adipositas müssen immer mehrere Maßnahmen verschränkt angewendet werden. Das bedeutet, dass die medikamentöse Therapie am effektivsten ist, wenn auch gleichzeitig Lebensmaßnahmen eingehalten werden. Die Stärke der neuen Präparate liegt darin, dass sie das Gewicht langfristig stabilisieren können; dazu muss man sie aber auch dauerhaft nehmen – zumindest deutet bisher alles daraufhin. Einzelfälle, in denen das Arzneimittel abgesetzt und das Gewicht gehalten wurde, sind leider eher die Ausnahme.

medianet:
Woran liegt das?
Kiefer: Es handelt sich eben um eine chronische Erkrankung, wobei es nach einem Gewichtsverlust zu Anpassungsvorgängen im Körper kommt, die alle darauf abzielen, wieder zuzunehmen. Dazu kommt, dass wir in einem adipositasfördernden Umfeld leben.

medianet:
Das heißt?
Kiefer: Unser Alltag ist geprägt von sitzenden Jobs, energiedichten, zuckerhaltigen Lebensmitteln, die noch dazu ständig auf der Straße und in den (Sozialen) Medien beworben werden. Hier könnte der Staat eingreifen und eine Zuckersteuer sowie ein Werbeverbot für Süßigkeiten in Kinderprogrammen aussprechen. Aber darüber hinaus braucht es eben ein flächendeckendes und niederschwelliges Präventions- und Therapieangebot sowie ein Bewusstsein bei allen Stakeholdern und eine Zusammenarbeit mit der Industrie.

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