Cannes: Wo treffen sich Daten und Kreativität?
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MARKETING & MEDIA Petra Steinke 01.07.2015

Cannes: Wo treffen sich Daten und Kreativität?

Zukunfts-Talk Inwiefern hat das Thema Daten mit Kreativität zu tun und wie ­können beide voneinander profitieren? Dieser Frage widmete sich eine hoch­karätige Expertenrunde bei den Cannes Lions.

Cannes. Das 62., größte und renommierteste Kreativfestival wird vermutlich den letzten Werbefachmann überzeugt haben, dass sich (fast) alles nur noch um Erhebung und Programmierung von Daten handelt. Zwei Lager trafen hier in Cannes aufeinander: Datenexperten und Kreative. Die Silicon Valley Technologie-Unternehmen überlagerten regelrecht das gesamte Stadtbild von Cannes und hatten es komplett umgewandelt.

Start-ups unterstützen

Das neue, zweitägige Festival „Lions Innovation” ist eingeführt worden, um genau dieser Frage auf den Grund zu gehen: Wo treffen sich Data, Technologie und Kreativität? Sie sollten sich bestenfalls ergänzen, aber die Meinungen kamen (noch nicht) so recht auf einen gemeinsamen Nenner. Beide Seiten sind aufgefordert, daran zu arbeiten. R/GA (Greenberg Associates) unterstütze im Rahmen der Lions Innovation zehn Start-up-Unternehmen, was laut dem Gründer Bob Greenberg großen Sinn mache, denn R/GA habe „die Fähigkeiten, gerade in der schwierigen Anfangsphase den Start-ups zu helfen”. Greenberg, der heuer in Cannes für seine Pionierarbeit mit dem Special Award Lion of St. Mark ausgezeichnet wurde, fügte hinzu: „Start-ups wollen alle die Industrieführer von morgen sein, aber sie starten in einem großen Wettbewerb und mit wenig Budget – aus diesem Grund scheitern auch viele.” Auf Anfrage, was er von Big Data hält, überlegte er einige Sekunden und sagte überzeugt: „Big Data ist dann nützlich, wenn das richtige Konzept und der richtige Grund dahinterstehen.”
Bei der Premiere der Cannes Innovation hat die Jury unter Vorsitz von Y&R-Chef David Sable in der Kategorie „Creative Data” keinen Grand Prix vergeben. In der Kategorie „Innovation” holte sich das Start-up What3words aus London den Grand Prix. Die Arbeit „3 words to adress the world” weist weltweit Ortschaften und Plätzen eine aus drei Worten bestehende Postkennung zu. Die Jury unter der Leitung von R/GA-Kreativchef Nick Law vergab insgesamt 8 Trophäen.
Ebenfalls neu im Bereich Innovation: die Seminarreihe „Meet the disrupters” (Trefft die Pioniere). Die am letzten Tag des Festivals stattfindende, neu lancierte Seminarreihe wurde gegründet, um noch radikalere Ansätze der „Innovatoren” zum Vorschein zu bringen. Die präsentierenden Unternehmen – als bekanntestes war AOL durch David Shing vertreten – kamen aus dem Tech-Bereich (A-LB), kreieren Kreativ-Applikationen (360I) oder bewerten Technologiebehebungen (Protein).
Eines hatten alle Unternehmen gemeinsam: Sie sind nicht nur ideenreich, sondern auch furchtlos, und das kann in der Tat die Kreativitätsbranche um einiges bereichern.

Mögliches Marketingende

Wem so viel Innovationen noch nicht genug war, der hätte sich in dem Vortrag „Sentience: The coming AI revolution” tatsächlich gruseln können. Das Wichtigste vorab: Marketing wird durch die Revolution der künstlichen Intelligenz grundlegend verändert werden.
Auf Einladung von PHD Medianetzwerk erschien der Computer-Wissenschaftler und Verantwortliche für die Begründung des World Wide Webs, Sir Tim Berners-Lee, als Gastreferent für Cannes Lions. Gemeinsam mit PHDs weltweitem CEO Mike Cooper ergründete er im Vortrag mit dem Titel „Sentience: The coming AI revolution” die nächste große Tech-Revolution künstlicher Intelligenz (engl. Artificial Intelligence, AI).
Cooper erwähnte vorweg, dass es keine 15 Jahre mehr dauern werde, bis die künstliche Intelligenz ein wesentlicher Teil unseres täglichen Lebens sei. Es werde aber auch das Marketing von Grund auf verändern, denn AI-Anwendungen seien weitgehend werbefinanziert, was wiederum bedeutet, dass Marketing eine der ersten Disziplinen ist, die von AI beeinträchtigt werde. Die Zukunft der Vermarktung werde im Algorithmus und nicht mehr auf dem präfrontalen Kortex liegen.
Insgesamt könne die AI die wichtigste Veränderung in der menschlichen Gesellschaft seit der Erfindung der Elektrizität sein, so Cooper. Er bezeichnete sie als das letzte Ereignis in der Geschichte der Menschheit, bevor Maschinen die Gesellschaft übernehmen. Trotz aller Bedenken wurden bereits 27 Mrd. USD für die Entwicklung der AI investiert.

Ersatz für die Menschen

Berners-Lee hatte anfangs die Anfrage Coopers, in Cannes zu sprechen, abgelehnt, weil es nicht sein Fachgebiet betreffe. Nach Überlegungen hatte er schließlich seine Meinung geändert, da „wir bereits von einigen Beispielen künstlicher Intelligenz umgeben sind, wie zum Beispiel automatischen Übersetzungsprogrammen, die nur so tun, als ob sie verstehen, aber in Wirklichkeit tun sie es nicht”, so Berners-Lee, „weil sie keinen Zusammenhang begreifen können”. Ebenso seien Sprach- und Geräuscherkennung immer noch in den Kinderschuhen, werden aber schon im US-Gesundheitssystem angewandt, um den Ärzten und Schwestern zu helfen. Laut Berners-Lee sollte Menschen nicht geschadet werden, aber es sieht wohl so aus, dass sie ersetzt werden würden. Selbst Unternehmen könnten von AI geführt werden. Elon Musk, Bill Gates und Steve Wozniak sind führende Persönlichkeiten, die vor Kurzem ihre Ansichten über die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz in Anlehnung an Stephen Hawking geäußert haben, dass sie das „Ende der menschlichen Rasse bedeuten könnte”.
Im Anschluss an das Seminar lud PHD ausgewählte Pressevertreter zum Launch des gleichnamigen neuen Buchs ins Carlton Hotel ein, auf dem Sir Tim Berners-Lee nochmals seine Ansichten teilte. Auf Presseanfrage, ob sich auch künstliche Emotion entwickeln werden würde, antwortete er mit Ja. „Künstliche Intelligenz bedeutet auch künstliche Emotion.” Das Buch mit dem Titel „Sentience. The Coming AI Revolution and the ­Implications for Marketing” hat seinen offiziellen Startschuss im Juli. Die Erlöse gehen an UNICEF: Es kann via Amazon, Google Play und im iBookstore erworben werden.

Große Verleihung Heuer fanden die 62. Cannes Lions statt. Eine Woche lang wurden mehr als 40.000 Arbeiten von Experten aus der Werbebranche genau beobachtet. Mittlerweile kürt das Festival in 21 Kategorien. Eine Auszeichnung bei dem Wettbewerb gilt in der Werbebranche „wie ein Ritterschlag”. Man darf auf die nächste „Krönung” gespannt sein.

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