Digitale Barrierefreiheit, eine Chance für alle
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MARKETING & MEDIA Redaktion 25.04.2025

Digitale Barrierefreiheit, eine Chance für alle

Warum Unternehmen jetzt aktiv werden sollten – und wie kluge Umsetzung Reichweite, Usability und Inklusion verbindet.

••• Von Dinko Fejzuli

Digitale Barrierefreiheit wird ab Mitte 2025 zur Pflicht – bietet Unternehmen aber weit mehr als nur gesetzliche Compliance. Wer digitale Zugänglichkeit frühzeitig mitdenkt, erschließt neue Zielgruppen, verbessert die Nutzererfahrung für alle und steigert die Sichtbarkeit in Suchmaschinen. Im Interview erklärt Christian Thanner, Senior Account Manager bei der Agentur Lunik2, warum Barrierefreiheit ein strategisches Thema ist und wie sie sich technisch und gestalterisch klug umsetzen lässt.


medianet:
Herr Thanner, Unabhängig davon, dass es ab Mitte 2025 seitens der EU vorgeschrieben ist: Warum sollten Unternehmen digitale Barrierefreiheit nicht nur als gesetzliche Pflicht sehen, sondern als strategische Chance?
Christian Thanner: Unternehmen können durch die barrierefreie Optimierung ihrer Online-Kanäle neue Zielgruppen erschließen. Wie hoch die Zahl der Menschen ist, die auf eine barrierefreie Umsetzung angewiesen sind, ist schwer zu sagen, aber eine realistische Schätzung liegt zwischen 10 und 15 Prozent. Eine verständliche Aufbereitung der Inhalte ist aber für nicht eingeschränkte Menschen genauso von Vorteil, um das Angebot von Unternehmen leichter nachvollziehen zu können. Dazu gehören klare Formulierungen genauso wie Designs, die kein Selbstzweck sind, sondern im besten Fall die Verständlichkeit der Inhalte unterstützen und nicht erschweren.

medianet:
Welche konkreten Vorteile bringt eine barrierefreie Website über die Compliance hinaus – etwa in Bezug auf Reichweite, Kundenzufriedenheit oder SEO?
Thanner: Schwere Bedienbarkeit, verwirrende Navigation oder schlechte Kontraste sorgen für Ärger und potenziell für Absprünge der User. Barrierefreie Umsetzung muss keine Abstriche in der Gestaltung der Websites oder Webshops bedeuten, kann aber für alle Usergruppen positiv sein wie klare Menüführung und gute Lesbarkeit. Gerade bei Webshops oder Hotelbuchungen sollten diese Aspekte sowieso optimiert sein, damit potenzielle Käufer erfolgreich zum Abschluss kommen.

Besonders in Bezug auf Suchmaschinenoptimierung wirken sich viele Aspekte der Barrierefreiheit ebenfalls positiv auf die Auffindbarkeit der eigenen Leistungen oder Produkte in den Suchmaschinen oder GPTs aus. Auch bei SEO sind eine saubere Website Struktur oder das Versehen aller Bilder mit aussagekräftigen, beschreibenden ALT-Tags ein wichtiger Bestandteil der Optimierung.


medianet:
Über eine Website hinaus. Wo sonst muss man digitale Barrierefreiheit mitdenken. Etwa beim Thema Bewegtbild, Podcasts und ähnlichen Dingen?
Thanner: Ob in Social Media oder auf der Website: Wo Videos eingesetzt werden, sind Untertitel unbedingt zu empfehlen. Der Aufwand dafür ist in den letzten Jahren stetig gesunken, weil die automatische Texterkennung mittlerweile so gut geworden ist, dass die automatischen Untertitel auf den meisten social Media Kanälen bereits sehr gut sind. Auch bei Podcasts erschließt eine Text Version natürlich die Inhalte für nicht hörende Personen, die sonst als Zielgruppe mit reinen Audio Inhalten nicht erreichbar wären.

medianet:
Welche Zielgruppen können durch barrierefreie digitale Angebote besser erreicht werden – und was bedeutet das wirtschaftlich?
Thanner: Die Anzahl der Personen, die auf barrierefreie Umsetzungen angewiesen sind, ist nur schwer zu schätzen, daher ist der wirtschaftliche Aspekt nicht seriös zu kalkulieren. Die Gruppe von Menschen, die von Barrierefreiheit profitieren, ist sehr heterogen und nicht nur auf blinde Menschen oder Menschen mit eingeschränkter Sehkraft begrenzt.

Moderne Tools, die auf Webseiten die Bedienung erleichtern können, enthalten zum Beispiel Profile für Personen mit ADHS, welche die Ablenkung reduzieren können Profile, die Menschen mit motorischen Einschränkungen unterstützen. Auch Anpassungen, welche das Risiko von epileptischen Anfällen durch die Reduktion von Bewegung auf der Seite reduzieren oder Unterstützung von Menschen mit Leseschwierigkeiten gehören zu den Standard-Features eines Barrierefreiheits-Tools auf der Website.


medianet:
Gibt es typische Nutzungssituationen oder Einschränkungen, die Unternehmen heute noch unterschätzen?
Thanner: Einige Anwendungsfälle liegen bei der Analyse der eigenen Zielgruppe auf der Hand – Webseiten mit Produkten, die sich zum Beispiel an ältere Personen richten, bieten sich zum Beispiel sehr dafür an, dass man Werkzeuge zum Vergrößern der Texte und zum Ändern der Kontraste integriert.

Der Aufbau dieser Seiten sollte generell klar und unkompliziert sein, man sollte sich bereits in der Konzeption genau überlegen, wann ein fancy Design mit unglaublichen Bewegungseffekten auf der Website sinnvoll ist und wann es vielleicht sogar die Verständlichkeit von Inhalten verschlechtert.


medianet:
Was sind die zentralen Elemente einer barrierefreien Website – und was sind die häufigsten Fehler?
Thanner: Die Basis einer Website, die den Fokus auf Barrierefreiheit setzt, ist eine klare und technisch saubere Struktur. Einzelne Aspekte der Website wie die Haupt-Navigation müssen besonders beachtet werden, damit sie mit Maus und Tastatur gleichermaßen zu bedienen sind, darauf wurde in den letzten Jahrzehnten oft weniger geachtet.

Ansonsten bleibt das grundsätzliche Design aufgrund der modernen Tools, die es für Barrierefreiheit bereits gibt, ziemlich frei, weil diese den Code der Website individuell anpassen, indem sie Schriften, Farben, Scripte und vieles mehr verändern können. Das bedeutet, dass das Design sozusagen für sehende Menschen weiterhin attraktiv gestaltet werden kann. Je früher in der Umsetzung einer Website Barrierefreiheit mitgedacht wird, desto weniger Mehraufwand ist es generell, wobei der Aufwand und die Anforderungen an die technische Umsetzung steigen, wenn ein höheres WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) Level erreicht werden sollte.


medianet:
Was machen Sie anders als andere Agenturen, die Barrierefreiheit anbieten – worin liegt Ihr besonderer Ansatz?
Thanner: Ich glaube wir stehen hier in Österreich relativ am Anfang und ich kann nicht beurteilen, wie stark das Thema bei den Agenturen angekommen ist. Generell sehen wir bei Lunik2 aufgrund des in vielen Fällen überschaubaren Mehraufwandes das Thema positiv und pragmatisch, gerade in Hinblick darauf, Personen zu erreichen, die vorher ausgeschlossen waren und auf die potenziellen Verbesserungen in der Sichtbarkeit, die sich daraus ergeben. Wir sind also nicht nur gut darauf vorbereitet, sondern freuen uns auf die Ergänzung der bisher oftmals ausgeschlossenen Zielgruppen.

medianet:
Haben Sie ein Projektbeispiel, das besonders gut zeigt, wie Ästhetik, Technik und Inklusion zusammenspielen können?
Thanner: Wir sind in einem KMU-dominierten Umfeld aktiv, und gerade auch hier macht das Thema Sinn. Im Beispiel einer Praxis für minimalinvasiven Gelenkersatz war unabhängig davon, ob gesetzlich vorgeschrieben oder nicht, das Ziel der Integration von Barrierefreiheit der eher älteren Zielgruppe Hilfe beim Lesen der Website-Inhalte bereitzustellen. Weil das von Anfang an Teil des Konzeptes war, war der Mehraufwand dann auch gering in der Umsetzung. (https://ortho-implant-plus.at/)

medianet:
Wie viel Vorlauf braucht ein Unternehmen, um bis Mitte 2025 eine barrierefreie Website umzusetzen – und worauf sollte man jetzt achten?
Thanner: Es kommt auf die Art der Plattform bzw. des Content Management Systems an, auf dem die Website aufgebaut ist, welche Art von Lösung sich eignet. Es gibt Plattform-unabhängige Tools, die über die Website geschaltet werden können und solche, die direkter Teil des Systems sind, wie zum Beispiel als Plugin für Wordpress. Die zeitlichen Aufwände variieren stark nach dem Umfang der Seiten, es kann zum Beispiel ein sehr großer Aufwand sein Tausende Bilder mit Alt-Texten zu versehen, auch wenn wie so oft auch hier AI helfen kann.

medianet:
Worauf sollte man aus Ihrer Sicht noch achten?
Thanner: Bei aktuell geplanten neuen Websites und vor allem Webshops empfehle ich das Thema von Anfang an mitdenken oder sich mit anbieten zu lassen, denn das ist die effizienteste Weise, sich hinterher große Mehraufwände zu sparen. Technisch gesehen sollte eine Umsetzung, auch damit Inhalte am Screenreader korrekt interpretiert werden, so sauber wie möglich sein. Stichworte sind hier die sauberen html-Hierarchien und der korrekte Einsatz von Buttons und Links.

Ob man generell unter die Barrierefreiheit Pflicht fällt, empfehle ich mit einem Rechtsberater oder Stellen wie der WKO oder dem Zentrum für Barrierefreiheit Austria zu besprechen.


medianet:
Was raten Sie Unternehmen, die sich dem Thema jetzt zum ersten Mal ernsthaft widmen – was sind erste sinnvolle Schritte?
Thanner: Nachdem man abgeklärt hat, ob man unter das Gesetz fallen wird, würde ich empfehlen, den Ist-Stand der eigenen Kommunikationskanäle zu analysieren: Ist die Website mit Tastatur bedienbar, haben die Bilder Alternativtexte, haben Videos Untertitel, wie gut ist die Lesbarkeit der Seiteninhalte mobil und am Desktop?

Einige dieser Aspekte bezeichnet man als ‚Low-Hanging-Fruits', also Dinge, die man einfach selbst ändern kann und die auch in jedem Fall sinnvoll für die Optimierung der eigenen Inhalte für klassische Suchmaschinen und die stetig relevanter werdenden GPTs sind. So kann Barrierefreiheit nicht nur Wahrnehmung soziale Verantwortung, sondern auch ein Reichweiten-Booster und potenzieller Wettbewerbsvorteil sein.

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