„Ein Rätsel der Bildungspolitik”
© APA/Roland Schlager
Sozialpartner und Regierung haben am Dienstagvormittag über die Arbeitsmarktkrise beraten. (v.l.) ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian, WKO-Generalsekretär Karlheinz Kopf, WKO-Präsident Harald Mahrer und AK-Präsidentin Renate Anderl.
MARKETING & MEDIA Redaktion 18.09.2020

„Ein Rätsel der Bildungspolitik”

Die Jugendarbeitslosigkeit steigt; Corona trifft die Jungen am heftigsten. Experten warnen vor einer verlorenen Generation.

••• Von Sabine Bretschneider

Die Lage am Arbeitsmarkt spitzt sich zu. Die Arbeitslosenrate bei Jugendlichen steigt dramatisch; in Wien steht derzeit ein Lehrplatz für zehn Lehrstellensuchende zur Verfügung, im April 2020 war das Verhältnis 1:20. „Wir haben allerdings mit der überbetrieblichen Lehrausbildung ein funktionierendes System an der Hand”, betont Franz-Josef Lackinger, Geschäftsführer des BFI Wien. In über 20 Berufen bildet das Institut Lehrlinge aus, die in der Wirtschaft nicht untergekommen sind. Warum diese Ausbildung dennoch nicht als seriöse Alternative zur klassischen Lehre im Betrieb wahrgenommen wird, hat Gründe, die nicht auf den ersten Blick einleuchten.


medianet: Der Arbeitsmarkt zeichnet ein trostloses Bild. Fast eine halbe Mio. Menschen sind arbeitslos oder in Schulungen, rund eine weitere halbe Mio. sind in Kurzarbeit, quer durch alle Branchen. Ist ‚Hochsaison' für Erwachsenenbildungsinstitute?
Franz-Josef Lackinger: Nun ja, das könnte man vermuten. Aber so einfach ist es nicht. Weil jetzt nicht sofort alles an Budgetmitteln vorhanden ist – und selbst wenn die Beschlüsse schon da wären, hat es lange Vorlaufzeiten. Das größte Thema sind derzeit die Jugendlichen. Bei Personen unter 25 ist die Arbeitslosigkeit überproportional gestiegen. Und dafür ist es mir ehrlich gesagt derzeit etwas zu ruhig. Wir haben zwar im Rahmen der bisherigen budgetären Möglichkeiten des AMS im Herbst ein paar Gruppen dazubekommen. Aber – ich spreche jetzt nicht für das BFI, sondern für alle Anbieter überbetrieblicher Ausbildungen – die Lücke ist und bleibt im Herbst beträchtlich groß. Insofern ist es also nicht so, dass bei uns jetzt wieder die Aufträge nur so hereinpurzeln …

medianet:
Schon vor der Krise waren rund 44.000 Jugendliche sechs Monate oder länger arbeitslos. Die dadurch entgangenen Einnahmen aus Abgaben und Konsum summieren sich auf rund 400 Mio. Euro jährlich. Das ist ein Schaden vergleichbar mit einer Commerzialbank-Pleite alle eineinhalb Jahre. Das mediale Echo auf diese Zahlen ist allerdings nicht vergleichbar. Warum eigentlich?
Lackinger: Das deckt sich auch mit den Ergebnissen einer Studie, die wir vor zwei Jahren gemacht haben: Dass vor allem jene Jugendlichen, die trotz versuchten Einstiegs ins Berufsleben nie zu einem Abschluss kommen, dramatisch andere Lebens- und Einkommensverläufe haben. Abgesehen vom sozialpsychologischen Problem ist das auch ein knallharter wirtschaftlicher Schaden. Dass dennoch so hartnäckig an den wahren Problemen vorbeiagiert wird, ist eines der großen Rätsel der österreichischen Bildungspolitik. Die Instrumente, die derzeit eingesetzt werden, sind immer ‚Mehr vom Gleichen'. Beispiel: Der Lehrlingsbonus für die Betriebe schafft keinen einzigen Lehrplatz.

medianet:
Warum ist das so?
Lackinger: Weil es die Gründe, warum ein Unternehmen nicht mehr ausbildet, nicht wirklich wettmacht. Weil viele Betriebe das ganze Berufsbild gar nicht mehr abdecken können. Berufsbilder werden aus technischen Gründen adaptiert, werden modernisiert. Sie sind breit gefächert – und Betriebe sind im Regelfall eher spezialisiert. 2.000 Euro zu bekommen, löst das Problem nicht. Auf der anderen Seite motivieren die 2.000 Euro, die der Betrieb pro Lehrling bekommt, keinen einzigen Jugendlichen, der nicht schon vorher Maurer, Spengler oder Installateur werden wollte. Damit wird dieses Marktversagen nicht gebändigt. Dennoch gehen die Forderungen immer in dieselbe Richtung: Wir brauchen einen höheren Lehrlingsbonus.

Im Gegensatz dazu gilt das Instrument der überbetrieblichen Ausbildung, so, wie es derzeit aufgesetzt ist, immer als reines Auffangnetz. Es steht am letzten Ende der Kette, wenn gar nichts mehr funktioniert, wenn die Schule nicht funktioniert, wenn kein Lehrplatz da ist. Wenn man nachweisen kann: Ich hab mich eh drei Mal beworben. Erst dann kommt man in die überbetriebliche Ausbildung.


medianet:
Wie könnte man da gegensteuern?
Lackinger: Leider wird darüber, hier diese dritte alternative Ausbildungsmöglichkeit zu schaffen und entsprechend zu fördern – vor allem in den Berufen, in denen wir einerseits einen Fachkräftemangel haben, andererseits die Betriebe aber nicht mehr in der Lage sind, diese Aufgabe zu erfüllen – nicht einmal diskutiert. Aus meiner Sicht ist das aber die einzige Chance, Jugendliche, die mit dem System Schule nicht mehr können und am Lehrstellenmarkt nicht unterkommen, zumindest bis zu einer mittleren Qualifikation zu führen – nicht als Lehrling zweiter Klasse, sondern wirklich auf einem tatsächlichen dritten, alternativen Weg.

medianet:
Das Handelsblatt hat kürzlich über die Situation in Deutschland berichtet. Dort haben sich die Kleinbetriebe mit weniger als 20 Beschäftigten schon vor der Pandemie zunehmend aus dem Ausbildungsmarkt verabschiedet. Aber rund 70 Prozent der befragten Ausbildungsbetriebe kennen die ‚assistierte' Ausbildung, wie ein Pendant zur überbetrieblichen Ausbildung heißt, gar nicht. Wie sieht das in Österreich aus?
Lackinger: Wir machen auch diese Erfahrung. Wenn wir Kontakt zu Unternehmen aufnehmen und Interesse wecken, ist die überwiegende Aussage oft: Das haben wir gar nicht gewusst. Viele kennen unsere Ausbildungseinrichtungen vom Vorbeifahren, wissen aber nicht, dass wir nicht nur ausbilden, sondern auch vermitteln. Aber das Image als ‚Auffangnetz' prägt eben die öffentliche Debatte und das Image. Dass hier qualitativ hochwertig gearbeitet wird, geht oft unter.

medianet:
Obwohl Sie Top-Zahlen haben, etwa bei den Lehrabschlussquoten …
Lackinger: Ja, es ist möglich, auch mit Kindern und Jugendlichen, die nicht die besten Noten haben in der Schule, echte Erfolge zu verzeichnen. 85 Prozent ist unser Schnitt bei den Abschlussprüfungen, die die Wirtschaftskammer abnimmt. Und 30 Prozent derer, die bei uns die Lehrausbildung machen, werden schon während der Lehrzeit in Betriebe vermittelt – und es gibt sehr gute Rückmeldungen seitens der Unternehmen.

Aber, wie gesagt, diese dritte Form der Ausbildung sollte institutionalisiert werden, das wäre unser Ziel – und nicht nur dann genutzt werden, wenn gar nichts anderes mehr geht.


medianet:
Gerade zum jetzigen Zeitpunkt wäre es also ein Mittel gegen die Lehrstellenlücke, gegen die Ausbildungslücke, gegen die zunehmende Jugend­arbeitslosigkeit?
Lackinger: Ja, manchmal ist es so. Manchmal braucht es eine gewisse Dramatik. Ob es gelingt, bei allen Beteiligten Vorurteile abzubauen, weiß ich nicht. Nach wie vor gibt es bei der Wirtschaftskammer die Tendenz, das klein zu halten und das Geld nur für die Betriebe zu beanspruchen.

Wir können aber nur so weit ausbilden, wie uns auch die Mittel zur Verfügung gestellt werden. Wir warten jetzt also einmal ab, wie es mit den Ankündigungen konkret weitergeht.


medianet:
Denken Sie, dass der ‚Generation Corona' der Start ins Berufsleben langfristig verhagelt worden ist?
Lackinger: Es wird nicht die gesamte Generation treffen, aber es wird sich sicherlich dann irgendwann in Studien zeigen, dass die Zahlen am Arbeitsmarkt schlimmer aussehen als sie schon vorher ausgesehen haben. Aber das sind ja nicht nur Zahlen, das sind Tausende einzelne Schicksale, Menschen, die das dann möglicherweise noch sehr lang mitschleppen. Wobei: Da kann man ja noch etwas tun! Genau deshalb müssen wir dieser Generation lebenslanges Lernen noch viel besser ermöglichen, als das jetzt der Fall ist.

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