Wien. Sprachwissenschaftler wählten ihn in Deutschland zum Unwort des Jahres 2014, im allgemeinen Sprachgebrauch steht er sinnbildlich für Verärgerung und Misstrauen der Bevölkerung den Medien gegenüber: der Begriff „Lügenpresse”.
Zuletzt verstärkt von der islamkritischen Pegida-Bewegung verwendet, wurde das Wort Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals schriftlich festgehalten und erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Ersten Weltkrieg und folgend in der NS-Zeit seine Hochkonjunktur. Dabei diente die Begrifflichkeit zumeist als Pauschaldiffamierung unabhängiger Medien. Von Adolf Hitler über Josef Goebbels abwärts verwendet, flaute die Verbreitung des Worts erst mit Ende des NS-Regimes ab, fand einige Erwähnungen in der DDR und anderen sozialistischen Ländern und kam jetzt mit den eben erwähnten Pegida-Demos wieder wirklich ans Tageslicht.
Vertrauensverlust
Ob und welche Bedeutung dem Wort „Lügenpresse” und den damit implizierten Vorwürfen heimischer Medien zukommt, darüber diskutierten auf Einladung der Austria Presse Agentur die Chefredakteure von ORF-Fernsehen, News und NZZ.at, Fritz Dittlbacher, Eva Weissenberger und Michael Fleischhacker, im Rahmen des Branchentreffs OTSconnect. „Wir haben uns lange in der bequemen Situation gesuhlt, die vierte Gewalt im Staat zu sein. Die Sicht auf uns Medien hat sich in einer Zeit, in der alles hinterfragt wird, gewandelt”, erläuterte Dittl-bacher eingangs; das Vertrauen in Medien sinke, weil Menschen in Zeiten der Krise einer spürbaren Unsicherheit ausgesetzt seien und daher generell das Vertrauen nachlasse. Die seit Kurzem im Amt befindliche News-Chefredakteurin Weissenberger kann dem angesprochenen Vertrauensverlust und Misstrauen auch etwas Positives abgewinnen: „Der Autoritätsverlust der Medien, aber auch der Politik bedeutet, dass Bürger mündiger geworden sind und sich ihre eigene Meinung bilden wollen – und nicht an Institutionen hängen die vorkauen, was sie sagen sollen.” Ein weiteres Faktum: Durch die digitale Revolution stehe man Tausenden Menschen gegenüber, „die in gewissen Feldern gemeinsam einfach mehr wissen als wir Journalisten”. Die Challenge sei, mit diesen in Diskussion zu treten und den Nutzen daraus zu ziehen. „Der Autoritätsverlust hat schon auch gute Auswirkungen. Wir wissen bloß noch nicht, wie wir damit umgehen sollen.”
Annäherungsversuche
Als gerechtfertigt argumentierte Fleischhacker die hinter dem Wort „Lügenpresse” versteckte Kritik: „Der Vorwurf gegen etablierte Medien, nur einen eingeschränkten Teil der österreichischen Realität abzubilden, nämlich den Teil, den die Mächtigen gern abgebildet sehen, ist ein zutreffender Vorwurf und der Hauptgrund für die sinkende Glaubwürdigkeit”, attes-tierte er.Folglich stellte sich in der Diskussion die Frage nach wahr und falsch sowie subjektiv und objektiv – Weissenberger dazu: „Das Versprechen der Medien war lange Zeit, die Wahrheit zu kennen und objektiv zu sein. Immer mehr Leute kapieren jetzt aber, dass das gar nicht möglich ist, sondern es sich immer bloß um eine Annäherung an die Wahrheit handelt.” Das Beispiel der Ukraineberichterstattung zeige laut Fleischhacker die Vielzahl an Quellen mit jeglicher gewünschter Information. Als „Verschwörungstheorie-Olympiade” betitelt er jenes Phänomen, bei dem sich Leute aus vielen Quellen ihre eigenen Vorstellungen zusammenreimen könnten. „Mit Fakten, Zahlen und Evidenz kann man sehr wohl zwischen richtig und nicht richtig unterscheiden”, warf Dittlbacher, der beim ORF mit Christian Wehrschütz einen preisgekrönten Mann vor Ort hat, ein.Fleischhacker entgegnete, dass genau dieser Ausschnitt der Wirklichkeit eine „Illusion von Objektivität” sei. „Die Frage ist, ob wir jahrelang ein geschöntes Bild der Öffentlichkeit angeboten haben. Wenn man sich diese Frage stellt, wird man mit den Leuten anders umgehen. Denn der Leser erwartet sich Objektivität und ahnt gleichzeitig wahrscheinlich, dass es sie nicht gibt”, so der NZZ.at-Chefredakteur.
Kontextualisierung
„Wir müssen aufhören zu behaupten, wir hätten die Wahrheit gepachtet. Wir können nur Informationen zur Verfügung stellen und diese in eine Beziehung stellen”, ergänzte Weissenberger. Gut festzumachen sei dies am Beispiel des inszenierten Bildes nach den Vorfällen um Charlie Hebdo, als Staatsoberhäupter in einer Seitenstraße beim Trauermarsch fotografiert wurden, so als befänden sie sich inmitten der Massen. „Es war eine Inszenierung, und die war nicht transparent. Es ist aber unsere journalistische Aufgabe, Inszenierungen wie diese aufzulösen”, forderte Dittlbacher. Fleischhacker stimmt zu: „Dieses Beispiel zeigt, dass Transparenz die neue Objektivität ist”. Und weiter: „Journalismus muss noch mehr Zusammenhänge zeigen. Früher ging es um Information, heute geht es um Wissen, also Information im Kontext.”