••• Von Christian Novacek
Die Coronapandemie hat für einige Trends wie ein Brandbeschleuniger gewirkt, augenscheinlich ganz besonders heftig beim Onlinehandel. Das ist aber nur auf den ersten Blick dramatisch, denn: Laut dem Impulspapier „Next Urban Retail”, das die international tätige Managementberatung Horváth in Kooperation mit dem renommierten Schweizer Gottlieb-Duttweiler-Institut erstellt hat, wäre gerade jetzt die Ausgangslage für eine Revitalisierung der Innenstädte optimal.
Regional in der Stadt
„Die Rückbesinnung auf den lokalen Handel im 15-Minuten-Radius wird sich als langfristiger Trend erweisen”, ist entsprechend Retail-Experte Michael Buttkus von Horváth & Partner überzeugt. Er sieht mehr Chancen als Risiken: „Der gleichzeitige Wandel in Mobilität, Konsum und Städteplanung eröffnet jetzt allen Akteuren die Chance für Kooperationen und gemeinsame Plattformen.”
Aber wie kombiniert sich der regionale, oft regional-bäuerlich durchtränkte Lokalitätsbegriff mit einer Großstadt wie Wien oder Berlin? Buttkus: „Auch in Großstädten greift das 15-Minuten-Konzept, wenn man es auf den Stadtteil bezieht. Und mit diesem identifizieren sich die Menschen spätestens seit Homeoffice und Lockdown immer mehr. In besonders dicht besiedelten Stadtteilen geht der Trend sogar eher noch zum 5-Minuten-Radius: Zu Hause arbeiten und in fußläufigen fünf Minuten einkaufen, shoppen, zum Bäcker, ins Restaurant und in die Bar.”
Der Bedarf nach kleineren Ladenformaten, die entweder spezialisiert sind oder sehr rasch auf die Bedürfnisse ihrer Einzugsgruppe reagieren können, wird geradezu befeuert.
Wie das Impulspapier „Next Urban Retail” nahelegt, avanciert der Grad an Kundennähe zum entscheidenden Erfolgsfaktor konkreter Handelsangebote. Die Differenzierung zwischen den Kundenbedürfnissen Convenience und Experience ist bereits wichtiger als das eigentliche Produkt. Das „Entweder-oder” einzelner Handelsangebote wird zusehends schwierig zu handhaben – was jetzt zählt, ist das Zusammenspiel zwischen Convenience und Experience, bei dem der Kunde im Vordergrund steht.
Das entspricht nicht mehr und nicht weniger als einem Paradigmenwechsel für die Branche. Denn die verschiedenen Anbieter und Akteure können diese Gratwanderung nur mit gemeinsamen Konzepten meistern – idealerweise datengetrieben.
Der angesprochene Paradigmenwechsel könnte in Sachen Convenience radikaler nicht sein: Erledigungen, die man schnell im Vorbeigehen abwickeln möchte, sollen einfach und bequem ablaufen.
Das widerspricht völlig bisherigen Ladenkonzepten, die auf eine höhere Verweildauer des Kunden im Geschäft ausgerichtet waren, wo im LEH Konsumenten ggf. mittels Umsortierung in den Regalen auf unfreiwillige Entdeckungsreise geschickt wurden; oder im Möbelhandel, wo diese Entdeckungsreise auch innnenarchitektonisch als Zwangsreise konzipiert war.
Projektionsfläche Innenstadt
Für Marta Kwiatkowski, Co-Autorin und Senior Researcher am Gottlieb Duttweiler Institute, ist die Zukunft klar: „Die Innenstädte mit ihren Verkaufsflächen, öffentlichen Plätzen, ihren Mobilitätsangeboten und ihrer logistischen Infrastruktur bilden die neue Projektionsfläche, auf der Anbieter von Handel, Gastronomie bis Kultur sich mit vernetzten Konzepten vernetzen und positionieren können.”
Händler sollten sich nach geeigneten Kooperationspartnern umsehen – branchenübergreifend und in der Konkurrenz. „Alles, was für den Kunden unsichtbar im Backend optimiert werden kann, ist prädestiniert für Partnerschaften”, erläutert Buttkus. Die Grenze zwischen Online-Handel und stationärem Handel wird weiter verschwimmen, die Hoheit über fragmentierte Kundendaten an Relevanz verlieren, da sie nur in kundenübergreifender Sicht von wirklich echtem Nutzen sind.
Flotte Lieferdienste
Auf Effizienz ausgerichtete Einkäufe werden heutzutage vorwiegend online erledigt. Vorplanung wird dabei weitestgehend obsolet, da die Lieferdienste immer schneller werden und Lieferungen mittlerweile binnen weniger Stunden – mitunter Minuten – möglich sind.
Micro-Hubs werden diesen Trend weiter unterstützen und auch Impulskäufe abdecken. Der Konkurrenzdruck findet zunehmend in der Logistik statt. Folglich stellt sich die Frage, wofür man noch in physische Läden geht, wenn alles online abgewickelt werden kann?
Hier schlägt die Stunde des im Übrigen seit Jahrzehnten gepriesenen und im Vergleich zur Dimension der Lobpreisung allerdings höchst sparsam umgesetzten Erlebniseinkaufs: Echte Erlebnisse und Services bleiben jene Bereiche, die auf der Fläche gewinnen. Dort, wo physische Nähe und soziale Interaktion eine zentrale Rolle spielen (Gastronomie, Beauty) können Produkte erlebbar werden.
Dein Freund, das Geschäft
Erlebnis erfährt Design: Das Gefühl, das der Konsument beim Einkauf verspüren soll, wird kreiert. Dabei handelt es sich nicht nur um Warenpräsentation und Kundenberatung – es geht darum, die Marke mit allen Sinnen spürbar zu machen und Erinnerungen zu schaffen. Der Kunde soll sich als Freund oder Besucher der (Marken-)Familie fühlen. Dafür wird etwa die Verkaufsfläche zur privat anmutenden Wohnung umgestaltet – und/oder die Produkte als Teil einer symbiotisch wirkenden Umgebung arrangiert, in der sie sich nicht in den Vordergrund drängen.
Multi-Konzepte
In vielen Städten stehen einstige Konsumtempel (Kaufhäuser) leer, Einkaufspassagen verlieren Mieter. Pop-up Stores und Food Plazas sind die aktuelle Lösung, aber sind sie mehr als eine Interimslösung?
„Einstige Konsumtempel, die heute noch bestehen, sind längst zum Marktplatz mit wechselnden und austauschbaren Anbietern geworden. Diese Flexibilität und das Temporäre sind aber nicht das Erfolgsrezept”, ist Buttkus überzeugt. Denn: Das Kaufhaus braucht eine eigene Geschichte und ein besonderes Erlebnisangebot, um zum Besuchermagneten zu werden. Es muss sich in seine Umgebung natürlich einfügen und aufgreifen, was diese ausmacht.
Das Bedürfnis nach Nähe im urbanen Alltag ist ins Zentrum gerückt – und nichts spricht dagegen, dass es dort verweilt.