Sperrstund’ is’: Handel auf Konsolidierungskurs
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MARKETING & MEDIA Redaktion 15.09.2023

Sperrstund’ is’: Handel auf Konsolidierungskurs

Die Pleitewelle hatte sich lange angekündigt, nun rollt sie. Doch die Marktbereinigung ist ohnedies alternativlos.

••• Von Paul Hafner

Praktisch von Beginn der Pandemie an wurde sie in Aussicht gestellt, angedroht, geradezu heraufbeschworen – doch erst jetzt, wo Corona aus den Köpfen und die Masken aus den Gesichtern der Menschen verschwunden sind, scheint es einen gewissen medialen Konsens darüber zu geben , dass sie auch tatsächlich eingetreten ist: Die Rede ist von der Insolvenzwelle im österreichischen Einzelhandel, der diese Benennung erst in den letzten Monaten zuteil geworden ist – nämlich im Zuge der alles überschattenden Pleite der Möbelhauskette kika/Leiner.

Wenn es nach den Zahlen der Statistik Austria geht, relativiert sich der Wellencharakter der Pleitenserie ein wenig: 2.609 Konkurse im ersten Halbjahr 2023 entsprechen „nur” einem Plus von zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum; gleichzeitig liegt der Wert erstmals über dem Vorkrisenniveau (1. Hj. 2019, 2.561) und beträgt das 2,5-Fache von jenem aus dem ersten Halbjahr 2021 (1.060), als die Zahl der Firmenpleiten durch die berüchtigte Gießkanne der Bundesregierung auf den niedrigsten Wert seit 40 Jahren gedrückt wurde.

Toxischer Mix

Ob ausgedehnte Welle oder Nachholeffekt: Die Unternehmenspleiten nehmen zu, und es scheint sich zu bewahrheiten, was Handelsverband-Präsident Stephan Mayer-Heinisch bereits Anfang 2022 unter dem Schlagwort „Financial Long Covid” ankündigte: Den Händlern geht (erst) in der auf die Gesundheitskrise folgenden Wirtschaftskrise die Luft aus.

„Sicherlich hat die verzögerte Welle auch damit zu tun, dass einige Pflichtbeiträge durch die öffentliche Hand gestundet wurden – neben den Sozialversicherungen auch die Cofag-Förderungen, die ja jetzt auch teilweise wieder zurückgefordert werden. Dazu kommen mit der hohen Inflation und den jetzt gestiegenen Zinsen auf Kredite sowie die Indexierung der Mieten weitere Belastungen auf die Unternehmen zu – und der Personalmangel tut sein Übriges”, fasst Roman Schwarzenecker, Gesellschafter und Prokurist bei Standort + Markt, die Misere, den „toxischen Mix”, zusammen. Verbunden mit der „generellen Kaufunlust einer verunsicherten Bevölkerung, die nicht nur weniger kauft, sondern wenn sie kauft, eher im Internet kauft” gehe sich das dann für eine Reihe von Händlern „nicht mehr aus” – vor diesem Hintergrund sei die momentane Häufung an Schließungen auch „keine Überraschung”.

Vulnerable Branchen

Besonders viele Pleiten verzeichnet der Schuh- und Modehandel: Vom (heimischen) Markt verschwanden bzw. verschwinden allein heuer u.a. klingende Namen wie Salamander, Delka, Gerry Weber und Tally Weijl; Hallhuber schloss kürzlich neun seiner 13 Österreich-Filialen. Neben der bekannten Bedrohung E-Commerce führt Schwarzenecker auch den inhärenten Charakter der Mode ins Feld: Sie verändert sich stetig – und mit ihr, welche Marken gefragt sind und welche eben nicht mehr.

Ebenfalls schon lange vor der Pandemie angeschlagen, geht es auch im Sportartikelhandel rund: Die norwegische Kette XXL Sports verkündete im Jänner, den österreichischen Markt noch heuer zu verlassen; im Februar gab der Grazer Outdoor-Ausrüster Northland auf, im Juni die Liezener Geomix AG, und Ende Juli rutschte auch noch Sport2000-Zulieferer Zentrasport in die Zahlungsunfähigkeit. Dass der britische Diskonter Sports Direct, der sein hiesiges Standortnetz von 50 auf mittlerweile 20 Filialen verkleinerte, eine langfristige Zukunft hat, darf zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden.

Die Welle

„Es ist Bewegung im Markt, die Häufung an Insolvenzen und Schließungen bekannter Handelsketten ist klar erkennbar”, sagt Schwarzenecker und ergänzt die genannten Beispiele um den Hanfshop-Pionier Bush­doctor sowie die Autozubehörkette Forstinger. „Aber flächenmäßig fällt vor allem die kika/Leiner-Pleite ins Gewicht.” Einen massiven, augenfälligen Shopflächenrückgang ortet er aktuell nicht, wiewohl er auch nicht von einem baldigen Ende der Pleitewelle ausgeht, ihre Fortsetzung jedenfalls für realistisch hält: „Wir haben ja noch nichts gelöst. Die Indexierung wird weitergehen, weil auch die Inflation weiter hoch ist. Der Handel budgetiert und plant sehr knapp, der Wareneinsatz ist groß – und wenn die Waren nicht anzubringen sind, Stichwort Kaufunlust, dann geht es schnell einmal in Richtung Insolvenz.”

Erhebungen von Stand­ort + Markt zur „E-Commerce-Sensitivity” würden zeigen, dass sowohl Innenstädte als auch Shopping Malls dem „größten Angriffspotenzial” seitens des Onlinehandels ausgesetzt seien – im Gegensatz etwa zu den „stark Diskonter-getriebenen Fachmarkzentren”.

Personalmangel hält an

Einen „Kahlschlag sondergleichen” ortet Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will: „Allein in den ersten sechs Monaten des heurigen Jahres mussten im Einzelhandel 6.400 Betriebe schließen, eine Steigerung von 141 Prozent.” Sollte die verfügbare Kaufkraft weiter sinken und die „exorbitante Steigerung bei den Fremdkapitalzinsen und Mietkosten anhalten”, erwartet der Handelssprecher für das zweite Halbjahr noch eine Verschärfung der Herausforderungen.

Sorge bereitet Will der anhaltende Personalmangel – der Einzelhandel bietet aktuell rund 14.700 Stellen an, „teilweise mit deutlicher Überzahlung”, und allen Lehrstellenoffensiven zum Trotz will das Händeringen kein Ende nehmen. Sonja Marchhart, stellvertretende Geschäftsführerin der WKÖ-Bundessparte Handel, spricht von einer abnehmenden Dynamik: „Nach zwei Jahren mit hohen Zuwächsen bei den Beschäftigten im Handel und Rekord-Beschäftigungszahlen im zweiten Halbjahr 2022 hat sich das Beschäftigungswachstum im ersten Halbjahr 2023 auf plus 0,2 Prozent abgeschwächt.”

Notwendiger Strukturwandel

Erquickliche Aussichten sind das nicht – schon gar nicht vor dem Hintergrund der kürzlich von der WKÖ präsentierten Zahlen zur Handelskonjunktur, die das dritte Halbjahr in Folge ein reales Wachstum vermissen ließen (medianet berichtete); tatsächlich ist an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nichts schönzureden. Und dennoch bedarf es keiner logischen Verrenkungen, um in der momentanen Krise des Einzelhandels auch eine Chance zu sehen – für die Innenstädte, für die Bevölkerung und nicht zuletzt für den Handel selbst, für den das Motto nur heißen kann: Stärkung durch Konsolidierung.

„Aus Stadtplanungssicht muss man sagen: Es ist begrüßenswert, dass Multifunktionalität in die Städte zurückkehrt”, nimmt Schwarzenecker Bezug auf den Shopflächenrückgang, der immer häufiger mit einer Flächenumwidmung hin zu Ärztezentren, Büro- oder Freizeitflächen und Wohnungen einhergeht – und somit nicht automatisch mehr Leerstand bedeutet. „Ich denke, dass man sich in den letzten zwanzig Jahren zu sehr auf den Einzelhandel ‚verlassen' hat – und jetzt ist die Kuh eben gemolken. Das heißt natürlich nicht, dass der gesamte Einzelhandel zusperrt, aber jetzt wird man sich eben wieder etwas ‚gesundschrumpfen'”, misst der Raumforscher dem Gegentrend nach Jahrzehnten des Flächenwachstums eine gewisse Unabdinglichkeit bei – nicht zuletzt vor dem Hintergrund veränderter Konsumentenbedürfnisse.

Abschied von der Gießkanne

In Anbetracht der eingangs angesprochenen, historisch niedrigen Insolvenzzahlen im ersten Halbjahr 2021 sprach Karl-Heinz Götze, Leiter Insolvenz bei KSV1870, seinerzeit von einer „Safety-Car-Phase”: Aufgrund der künstlichen Eingriffe der Bundesregierung würden sich „zahlreiche Unternehmen in einer trügerischen Sicherheit wähnen”. Seine Empfehlung vom Juli 2021: „Um den Schaden für Österreichs Wirtschaft nicht weiter in die Höhe zu treiben, sollte die Regierung die Gießkanne beiseite stellen und die finanzielle Unterstützung von Firmen beenden, die nach Ende der Hilfsmaßnahmen ohnehin in die Insolvenz schlittern werden.”

Viel besser wäre es, so Götze damals, „jene Betriebe gezielt mit Liquidität zu stärken, die eine reelle Überlebenschance haben – etwa im Rahmen einer Sanierung”. Gehört wurde Götze – wie auch viele andere, die früh eine Abkehr von der „Gießkanne” forderten – nicht; und statt etwa die wirklich essenzielle Nahversorgung in Österreichs Gemeinden zu priorisieren, wurden Unternehmen mit Steuergeld versorgt, deren absehbarer Exitus ohnehin – und noch vor Corona – eine Frage der Zeit war.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Bewässerungsgerät längst Einzug in den Duktus der Bundesregierung erhalten hat: Im April diesen Jahres auf die Senkung der Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel angesprochen, gab es von Kanzler Karl Nehammer eine entschiedene Absage: „Maßnahmen sollten zielgerichtet sein. Die Gießkanne wäre das falsche Mittel.”

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