••• Von Georg Sohler
Vor knapp zehn Jahren baute Wien die Mariahilfer Straße um. Statt Autoverkehr schuf man eine Begegnungs- und Fußgängerzone – wenn man so will, eine typisch österreichische Lösung. Wirtschaftsvertreter tobten und befürchteten den Niedergang des innerstädtischen Shoppings. Eingetreten sind diese Befürchtungen nicht.
Allerdings verändert sich das Bild der Einkaufsstraße. Mode wird vermehrt online gekauft, Musik gestreamt – wann haben Sie zuletzt im Reisebüro einen Urlaub geplant? Aber anders bedeutet nicht gleichzeitig schlechter, wie vor wenigen Wochen, auch wegen des Rückzugs von Nike, medial kolportiert. Die Annahme: Die Mahü stirbt.
medianet hat mit Experten, Branchenvertretern und Händlern gesprochen, um herauszufinden, was die „Mahü” 2024 noch alles bietet – und ob sie gar ein Vorbild ist. Denn die nackten Zahlen zeichnen schon einmal ein anderes Bild.
Sogar mehr Frequenz
Der harte Leerstand – also ohne in Umbau befindliche Flächen – ist von 2023 auf 2024 von 6,2% auf 4,9% zurückgegangen; 2019 betrug der Wert 3,9% – allerdings vor Corona, Krieg und Inflation. Nimmt man den Leerstand in Umbau dazu, liegt der Anteil schon viel höher, allerdings treibt hier die Baustelle des Kaufhauses Lamarr diesen Wert in die Höhe. Zum Vergleich: Auch Shopping-Malls haben einen Leerstand im mittleren einstelligen Prozentbereich. Die grobe Veränderung hinsichtlich Branchen ist auch nur bedingt zu registrieren. Der Flächenanteil an Gastronomie stieg nur zwischen 2019 und 2024 von neun auf elf Prozent. Was stimmt, ist, dass der Anteil an Modeshop-Flächen im selben Zeitraum von 38 auf 33% zurückgegangen ist; die Passantenfrequenz nimmt hingegen zu.
Diese Zahlen nennt Hannes Lindner, CEO & Partner bei Standort + Markt, einem Beratungsunternehmen in Sachen Standortfragen für Gewerbeimmobilien. Im Interview führt er die aus seiner Sicht „wahren Probleme” der Einkaufsmeile an: In erster Linie die Mieten, die nicht sinken: „Die Eigentümer der Immobilien würden gerne auf den hohen Mieten beharren. Nicht selten erfordert eine deutliche Mietreduktion auch eine entsprechende Abwertung in den Büchern. Dieses hohes Mietpreisniveau ist zwischenzeitlich für manche Mieter schlichtweg nicht mehr tragbar, sie stehen an diesen Standorten wirtschaftlich sozusagen unter Wasser.”
Positiv mit einem „Aber”
„Zwischenzeitlich” heißt demzufolge, dass dieses Problem sich lösen kann oder wird. Die Mariahilfer Straße steht also nicht so schlecht da, wie manche Medienberichte vermuten lassen.
Ines Delic, ihres Zeichens Head of Retail and Real Estate bei RegioPlan Consulting, beschreibt den Status quo auf Anfrage so: „Die Mariahilfer Straße ist eine Kult-Einkaufsstraße. Sie hat sich von einer traditionellen Einkaufsstraße zu einem vielfältigen, modernen Stadtzentrum gewandelt.” Sie geht noch weiter, nennt sie ein „Paradebeispiel, wie sich eine historische Einkaufsstraße den neuen Anforderungen des Handels und Konsumentenwandels, aber auch der Stadtentwicklung, anpassen kann”.
Dies bringt nicht nur Vorteile, sondern auch Herausforderungen. Die eingangs erwähnten Verschiebungen im Konsumverhalten kann Delic auf das ganze Land bezogen belegen: „In den letzten zehn Jahren ist die Verkaufsfläche in Österreich um etwa 18 Prozent geschrumpft, während der Online-Anteil im gleichen Maß zugenommen hat.” Der stationäre Einzelhandel stagniert laut den ihr vorliegenden RegioPlan-Zahlen, während sich die Ausgaben für Gastronomie nahezu verdoppeln. Der Handlungsspielraum, in dessen Rahmen die Politik solche Innenstadtlagen mitgestalten kann, ist zudem „begrenzt”. Man könne den öffentlichen Raum gestalten und beispielsweise die Erreichbarkeit erleichtern, aber nicht in den Branchenmix oder die Geschäftsmieten eingreifen.
Das sagen Händler
Jeder Lokalaugenschein zeigt, dass sich das Bild der Straße ändert, in vielerlei Hinsicht. So profitieren etwa Nebenstraßen wie die Neubau- oder Zollergasse. Umgekehrt führt eine gemütlichere Gestaltung der Straße auch dazu, dass sich vermehrt Menschen einfinden, die wenig (oder gar keinen) privaten Wohnraum haben. Wie schätzen nun konkret die Händler die Entwicklung ein? Zentral ist da etwa das Kaufhaus Gerngross – man lässt auf Anfrage aber nur wissen, dass man mit Entwicklung und Frequenz zufrieden sei.
Neu auf der Einkaufsmeile ist mömax. Dort erhofft man sich vor allem im Fachsortimentsbereich die „enormen Frequenzen”, die es im geschlossenen Leiner (also dem Lamarr, Anm.) gegeben hat. Unternehmenssprecher Thomas Saliger meint im Gespräch, dass das sich ändernde Kundenverhalten aus seiner Sicht dazu führe, dass das Verhältnis von stationärem Umsatz zu Miete und Personalkosten extrem schwierig wird. In Einkaufszentren beobachtet er auch vermehrt Diskont und Gastronomie. Hier könnte die Politik tätig werden: „Gerade die Onlinehändler wie Temu, Shein und so weiter drängen extrem aggressiv auf den österreichischen Markt und überschwemmen mit billiger Chinaware per billigem Paketversand Österreich und verdrängen so den stationären Handel. De facto müsste man hier in der Politik regulierend eingreifen.” Dieses Billigshopping habe die Preise „ruiniert”, wie man es bei Intersport Winninger formuliert.
Geschäftsführer Manuel Winninger wirft generell einen differenzierten Blick auf die Mahü. Man ist seit 2021 am heutigen Standort und „die Attraktivität der Straße nimmt Richtung Westbahnhof ab”. Unzufrieden ist man nicht, aber auch nicht „vollends zufrieden”. Er sieht eine Gesellschaft, deren Kaufkraft sinkt und die zusehends frustriert sei; in den Medien „gibt es kaum mehr Positives zu berichten”. Das würde sich ändern, wenn man fairer entlohnen könne und den Menschen mehr Netto vom Brutto bliebe. Man müsse aber auch selber etwas tun, sagt er: „Events ziehen auf dieser Straße, wir haben einen Running Club, Highrox oder Yoga-Events. Das ist der ‚Zucker' an diesem Standort.”
Erlebnisse schaffen
Auf das Extra setzt man weiter stadtauswärts, bei Thalia. Seit 1999 ist man auf der Mahü. Hubert Kienegger, Leiter der Thalia Buchhandlung Mariahilfer Straße, sagt: „Es gibt viele Faktoren, die das Umsatzgeschehen in Innenstädten beeinflussen, allen voran der Wettbewerb durch Online-Shopping und Einkaufszentren. Gleichzeitig hat sich das Konsumverhalten verändert: Die Menschen möchten die Innenstadt oft eher als Ort der Erholung und des Zusammenseins nutzen.” Geschäftsführerin Andrea Heumann erklärt die Hintergründe – wie man den Standort weiterentwickelt, um sich den Kundenbedürfnissen anzupassen: „Wir verstehen uns heute als ‚dritter Ort', der einen Ausgleich zwischen Beruf und Familie bietet. Mit einem breiten Angebot, persönlicher Beratung und spannenden Events machen wir Bücher und Kultur für alle erlebbar.”
Die erwähnten Geschäfte sind nicht die einzigen, die den Kunden die heute so wichtigen Freizeiterlebnisse mitliefern wollen. Es gibt alleine bei Thalia rund 100 Events pro Jahr, auf der ganzen Einkaufsmeile vermutlich ein Vielfaches.
Den Online-Handel kann die lokale Politik allerdings kaum eindämmen, auch die Gründe der Teuerung können vermutlich nicht einmal in Brüssel behoben werden. Was kann man also tun, außer selbst Anreize zu setzen? Heumann meint: „Es braucht eine kontinuierliche Unterstützung durch die Politik, etwa durch weitere Anreize für Händler, innovative Formate anzubieten, oder die Schaffung von Aufenthaltsräumen, die zum Verweilen einladen.” Das ginge wohl schon auf lokaler Ebene.
Das größere Bild sehen
Die Interessen der Wirtschaftstreibenden bündelt und vertritt bekanntlich die Wirtschaftskammer. Verena Haller ist Bezirksobfrau der WK Wien für den 6. Bezirk und nimmt Stellung zur Frage, was sich verändert und wie man darauf reagieren kann: „Der Trend geht zum Entertainment-Shopping. Damit die Kunden in die stationären Geschäfte kommen, müssen wir Unternehmer eine breite Vielfalt, viel Kreativität und persönliche Betreuung bieten.”
Ihr Pendant im 7. Bezirk, Markus Frömmel, denkt weiter: „Eine Möglichkeit wäre es, die großzügigen Flächen im ersten Stockwerk für Büros oder Wohnungen umzugestalten. Innovative Shop-in-Shop-Konzepte könnten eine Lösung sein, bei der mehrere kleinere Flächen flexibel vermietet werden.” Die Veränderung per se sei aber kein akutes Problem.
Rainer Will, Geschäftsführer des Handelsverbands, betrachtet die Entwicklung der Mahü als positiv, vor allem im Vergleich zu anderen Einkaufsstraßen. Mehr öffentlicher Raum stärke den Status als Freizeitdestination. Natürlich trage die U-Bahnbaustelle an zentraler Stelle auch nicht zum Wohlbefinden bei; etwaige Umsatzrückgänge sieht er als generelles Thema: „Sowohl 2022 als auch 2023 waren die realen Einzelhandelsumsätze in Österreich rückläufig, ebenso im ersten Halbjahr 2024.” In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation sei das aber auch kein Wunder. Die Preissensibilität spüre man auch bei den Anbietern: Im Kaufhaus Gerngross hat Non-Food-Disconter Action einen Store eröffnet, statt eines Flagship-Stores der gehobenen Modemarke Benetton befindet sich hier nun mömax.
Der Mahü geht’s gut
Ob die Mahü auch ein Vorbild für andere, kleinere Innenstädte ist, stellen die Befragten infrage. In Wien funktioniert sie. Andere könnten, so Will, von den hilfreichen Faktoren, wie Events und guter Erreichbarkeit, gepaart mit attraktiven Ladenkonzepten und Gastronomie, lernen. Delic fasst mit Blick auf die Zukunft zusammen: „Die Konsumenten von heute und morgen möchten einen Mehrwert des physischen Einkaufens spüren – sei es durch personalisierten Service, innovative Technologien, nachhaltige Angebote oder durch das Schaffen einer einladenden und erlebenswerten Atmosphäre.” Was heute noch nach Leerstand aussieht, wird morgen schon mit Leben gefüllt sein – nur vermutlich anders als zuvor.