WIEN. Europaweit wurden 2020 insgesamt 5.578 Investitionsprojekte ausländischer Investoren angekündigt, das waren 13% weniger als im Vorjahr – einen derartigen Einbruch gab es selbst im Jahr 2009 nicht. Vor dem Hintergrund der erheblichen Einschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens war allerdings von vielen ein noch stärkerer Rückgang der Investitionstätigkeit erwartet worden.
Einige mittelgroße Volkswirtschaften – zum Beispiel Polen, die Türkei, Österreich und die Schweiz – konnten jedoch sogar mehr Investitionsprojekte ausländischer Unternehmen anziehen als im Vorjahr.
Die Zahl der ausländischen Direktinvestitionen in Österreich stieg im vergangenen Jahr um weitere zehn Prozent – gegen den europäischen Trend. Mit 76 Projekten wurde ein neuer Rekordwert erreicht; 2019 waren es 69 Projekte. Der Anstieg ist in erster Linie auf das um 42% auf 34 Projekte gestiegene Engagement deutscher Unternehmen im Nachbarland Österreich zurückzuführen, das inzwischen für fast jede zweite von einem ausländischen Unternehmen in Österreich durchgeführte Investition verantwortlich ist.
US-amerikanische und chinesische Unternehmen kündigten hingegen deutlich weniger Projekte in Österreich an als im Vorjahr.
Das sind die Ergebnisse des 19. „EY Attractiveness Survey“ der Prüfungs- und Beratungsorganisation EY zur Attraktivität des Wirtschaftsraums Europa und zu tatsächlichen Investitionsprojekten ausländischer Unternehmen in Europa.
Attraktiver Standort
Den insgesamt relativ überschaubaren Rückgang bei der Investitionstätigkeit in Europa wertet Gunther Reimoser, Country Managing Partner EY Österreich, als Zeichen eines großen Vertrauens in die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften: „Die Coronakrise führte zwar im Frühjahr 2020 zu einer Art Schockstarre in ganz Europa, zu massiven Sparmaßnahmen und zu einem vorübergehenden Stopp vieler Investitionsprojekte. Aber schon in der zweiten Jahreshälfte kam die Wirtschaft vielerorts wieder in Gang, und das Investitionsumfeld verbesserte sich erheblich. Unterm Strich fiel der Rückgang erheblich geringer aus als zunächst befürchtet.“
Die deutliche Steigerung ausländischer Investitionen in Österreich sieht Reimoser als treibende Kraft für weiteren Aufschwung: „Den Anstieg gegen den europäischen Trend sehen wir als Bestätigung der Standortpolitik – die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Österreich ist im letzten Jahr deutlich gestiegen. Die Coronakrise hat zwar – wie es aussieht relativ zeitbegrenzt – im Frühjahr 2020 für eine Vollbremsung gesorgt, doch nicht bei den Investitionen. Jetzt gilt es, diesen Aufschwung zu nutzen, um die heimische Wirtschaft anzukurbeln.“ Die Rahmenbedingungen für einen Neustart sind jedenfalls gut: „Der Wirtschaftsstandort zieht immer mehr Investitionen an, die Infektionszahlen sind aktuell sehr gering, und bei der schrittweisen Öffnung der Wirtschaft gehört Österreich zu den Vorreitern. Diese Vorzeichen gilt es zu nutzen, um rasch positive Impulse für die Wirtschaft zu setzen und durch Investitionsprojekte dringend notwendige neue Stellen zu schaffen und damit die Beschäftigung anzukurbeln“, so Reimoser.
Deutsches Engagement gestiegen
Deutsche Unternehmen waren erneut die mit Abstand relevanteste Investorengruppe in Österreich – sie steigerten ihr Engagement im Vergleich zu 2019 um 42%. Die Direktinvestitionen US-amerikanischer Unternehmen nahmen hingegen um 15% ab. Aus der Schweiz wurden dagegen sieben Investitionen gezählt, eine Steigerung nach sechs Projekten im Vorjahr. Unternehmen aus anderen großen europäischen Volkswirtschaften wie Frankreich, Italien, Großbritannien oder Spanien scheinen den Investitionsstandort Österreich weiterhin kaum auf dem Radar zu haben. Massiv gesunken ist zudem die Zahl chinesischer Investitionen: von zehn auf eine.
Österreichische Unternehmen bei Investitionen zurückhaltend
In die andere Richtung zeigt sich allerdings ein deutlicher Abwärtstrend: Die Auslandsinvestitionen österreichischer Unternehmen sanken 2019 schon um fast um ein Viertel auf 107 Projekte und 2020 weiter auf 74. Erneut rückläufig war das Engagement der österreichischen Wirtschaft in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Hier sank die Zahl der Projekte von 39 auf 29, nachdem 2018 noch 63 Investitionen in den Ländern Mittel- und Osteuropas gezählt worden waren. In Westeuropa wurden 2020 insgesamt 70 Projekte gezählt (2019: 68). „2020 wurde wieder vermehrt bei unseren direkten Nachbarn Deutschland mit 31 Projekten investiert, darauf folgen Frankreich mit zwölf Projekten und Großbritannien mit acht“, so Reimoser.
Anstieg der Investitionen erwartet
Im vergangenen Jahr fuhren vor allem Unternehmen aus dem Maschinenbau und der Autoindustrie ihre Investitionen europaweit deutlich – um 21 bzw. um 35% – herunter. „Klassische Industrieunternehmen mussten im vergangenen Jahr bei den Investitionen massiv auf die Bremse treten. Im produzierenden Gewerbe waren der Umsatzeinbruch und die damit einhergehende Unsicherheit vorübergehend sehr groß“, sagt Reimoser. „Pharmaunternehmen hingegen bauten ihre Kapazitäten kräftig aus – die Investitionen stiegen europaweit um 62 Prozent. Dieser Boom dürfte sich im laufenden Jahr fortsetzen.“ Im Groß- und Einzelhandel sei die Investitionstätigkeit in Europa fast auf Vorjahresniveau gelegen, in der chemischen Industrie nur leicht – um fünf Prozent – darunter.
Reimoser rechnet mit einem Anstieg der Investitionen im Jahr 2021, da die Investitionsbereitschaft gerade in der Industrie wieder steige. „Der Automobilstandort Deutschland konnte sich in den vergangenen Jahren und auch im schwierigen Jahr der Pandemie behaupten und ist bei der Umstellung auf Elektromobilität bereits einen großen Schritt weitergekommen.“ Auch der Maschinenbau und die Chemieindustrie in ganz Europa würden sich – vor allem dank der Nachfrage aus China – erholen. Die Perspektiven der Pharmabranche seien ohnehin anhaltend gut.
Die Neuausrichtung der Lieferketten und verstärktes Nearshoring wird zu einem zentralen Thema bei vielen Unternehmen: „Viele europäische Konzerne stehen vor der Herausforderung, die Abhängigkeit von Produkten und Vorprodukten aus Ländern wie China, Indien oder Südkorea, aber auch aus den USA zu reduzieren.“ Mit einem generellen Trend zum sogenannten Nearshoring rechnet Reimoser zwar nicht, denn „das würde bei den Unternehmen zu signifikant steigenden Kosten und sinkender Wettbewerbsfähigkeit führen“. Aber er sieht durchaus einen neuen Fokus auf Verlässlichkeit, Planbarkeit und vor allem Nachhaltigkeit.
Dekarbonisierung bleibt im Fokus
„In der Nach-Corona-Zeit werden Nachhaltigkeitsaspekte bei Investitionen eine noch viel größere Rolle spielen als bisher“, betont Reimoser. „Der Green Deal der EU hat bereits die Weichen gestellt und jüngste Urteile, wie jenes vom Bundesverfassungsgericht in Deutschland oder das Urteil gegen Shell in Den Haag, hat die Dringlichkeit des Themas allen Akteuren noch einmal vor Augen geführt: An einem grünen Umbau der Wirtschaft führt kein Weg vorbei, und gerade die europäische Industrie hat nicht nur alle Chancen, sondern auch die Verantwortung, hier eine Vorreiterrolle einzunehmen.“
Einige Geschäftsmodelle – etwa Stahl und Chemie, aber auch im Bereich Mobilität – würden in den kommenden Jahren eine tiefgreifende Transformation durchleben, prognostiziert Reimoser. „Der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit vieler Branchen sind mehr denn je neue Technologien, in die jetzt erheblich investiert werden muss. Haupttreiber werden dabei die Steigerung der Kosteneffizienz und die drohende Nichteinhaltung von neuen Umweltvorgaben sein.“ Nachhaltigkeit werde zukünftig mehr denn je die Standortentscheidungen von Investoren bestimmen, sagt Reimoser: „Alle von nun an getätigten langfristigen Industrieinvestitionen müssen klimaneutral erfolgen – sonst werden sie sich nicht rechnen.“ Diese Erkenntnis setze sich zunehmend durch und werde schon bald die Investitionslandschaft grundsätzlich verändern, so Reimoser.
Schub für die Digitalisierung
Auf europäischer Ebene sank im vergangenen Jahr die Zahl der Investitionsprojekte im Bereich Software & IT-Dienstleistungen um 14% auf 1.046. Europaweit liegt der IT-Sektor in diesem Jahr erneut im Branchenvergleich vorn: Keine andere Branche hat so viele Investitionsprojekte durchgeführt.
Reimoser rechnet mittelfristig mit einer weiteren Steigerung der Bedeutung IT-bezogener Investitionen: „Die Pandemie hat bestehende Schwachstellen im Bereich der Digitalisierung gnadenlos offengelegt: Wer auf analoge Kommunikation und Geschäftsmodelle gesetzt hat – ob in den Unternehmen oder in der Öffentlichen Verwaltung –, bekam in Lockdown-Zeiten erhebliche Probleme, während etwa Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen einen kräftigen Schub erlebten“, erklärt Reimoser. „Schon lange hat die Förderung der Digitalisierung und digitaler Kompetenzen in der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung hohe Priorität. Die Pandemie hat aber erheblichen und dringenden Handlungsbedarf aufgezeigt. In den kommenden Jahren werden wir daher einen kräftigen Zuwachs bei Digitalisierungsinvestitionen sehen. Zudem wird zunehmend die Verfügbarkeit von Arbeitskräften mit entsprechenden technologischen Fähigkeiten ein wichtiger Faktor, der bestimmt, wo Unternehmen investieren.“ (hk)