Angst vor falschem Essen sorgt für fette Geschäfte
RETAIL natalie Oberhollenzer 10.03.2015

Angst vor falschem Essen sorgt für fette Geschäfte

Lebensmittelsicherheit Die Zahl der Menschen mit Lebensmittelallergien und freiwilligern Verzichtern steigt

Firmen wie Dr. Schär profitieren, Spar mit eigener Marke, Rewe Austria: keine Eigenmarke vor der Tür.

Wien. „Essen – die neue Religion”, titelte unlängst der Stern. „Der Feind auf meinem Teller”, hieß es in einer großen Geschichte im Spiegel. Der Tenor: Beim Essen geht es immer weniger um das, was drin ist, sondern um das, was fehlt – laktosefrei, salz- oder fettarm, glutenarm, ohne Histamin oder fleischlos. Erlösung durch Verzicht lautet die neue Zauberformel. Wer den Trend rechtzeitig erkannt hat, darf sich über fette Geschäfte freuen.

Zum Beispiel die Südtiroler Firma Dr. Schär. Das Unternehmen hat sich auf glutenfreie Ernährung spezialisiert und erzielte im Vorjahr mit einem Umsatz an 260 Mio. Euro ein zweistelliges Wachstum. Dass man mit einem Nischenprodukt so schnell wachsen kann, hätte sich Firmenchef Ulrich Ladurner nicht gedacht. Allein in Deutschland stiegen die Erlöse um 25 Prozent.

LEH: Spar als Vorreiter

Am achtsamsten überhaupt sind die Konsumenten in den USA. Dort meiden laut Umfragen schon 30 Prozent der Erwachsenen Gluten. Und auch hierzulande steigen die Geschäfte mit „frei von”-Lebensmitteln, allen voran von gluten- und laktosefreien. Davon profitieren Händler wie Reformhäuser (Marktführer Reform Martin etwa verzeichnete in den letzten Jahren starkes Wachstum) und Drogerien, die sich auf das Segment spezialisiert haben (dm). Aber auch der konventionelle Lebensmittelhandel zieht nach. In Deutschland hat die Rewe eine neue Eigenmarke namens „frei von” lanciert, die eine breit gefächerte Palette an laktose- und/oder glutenfreien Produkten enthält: Backmischungen, Müsli, Pizzaböden, Käse, Suppen, etc. Bei der Rewe Austria stehe der Launch einer solchen Eigenmarke nicht vor der Tür, wie Pressesprecherin Ines Schurin bekannt gibt. Sie verweist auf das besonders bei Merkur bereits vorhandene breite Sortiment an Lebensmitteln für Menschen mit speziellen Bedürfnissen. Viel früher hat die Spar reagiert: Schon 2009 brachte die Handelsorganisation die Eigenmarke „free from” auf den Markt. Damals startete man mit 40 Produkten, wobei Vorstandschef Gerhard Drexel beteuerte, dass die Palette günstiger sei als die bisher am Markt angebotenen Spezialartikel; „Nahrungsmittelunverträglichkeit darf keine soziale Benachteiligung sein”, betonte er.

Verändere mich!

Warum heute viele zu „frei von”-Produkten greifen, obwohl sie gar nicht müssten, erklärt der Hamburger Ernährungspsychologe Joachim Westenhöfer. Für ihn ist das neue Ernährungsbewusstsein auch ein soziales Abzeichen, eine elitäre Abkehr vom Mainstream der Wohlstandsgesellschaft: „Das hat mit der Lust zu tun, zeigen zu können, dass man etwas nicht nötig hat.” Ähnlich formuliert es der Wissenschaftler Norbert Bolz: „Nur wer sehr viel hat, kann ‚less is more' als die neue Form von Luxus konsumieren”. Während man in der Nachkriegszeit Bedürfnisse konsumierte, und in den Jahren des Aufschwungs Wünsche, sind es heute die Werte. „Verändere mich! Mach mich zum reinen Menschen”, bringt Bolz die neue Einkaufsformel auf den Punkt. „Und welche Branche kann dem mehr entsprechen als die Lebensmittelbranche? Heißt es nicht auch, ‚du bist, was du isst'?”Bei Dr. Schär jedenfalls arbeitet man schon an einem neuen Sortiment; im Labor entwickeln Forscher gerade Lebensmittel für eine eiweißarme Diät. Die eigentliche Zielgruppe (Nieren oder Leberkranke) ist zwar recht klein. Aber das muss ja nichts heißen.

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