••• Von Thomas Hoisl
Mittwoch zu Mittag, die Sonne scheint, es ist April – zu dieser Stoßzeit drücken sich in der engen, rechten Marktreihe stadteinwärts besonders die Touristen, während links nebenan in den Schanigärten die Sonnenanbeter speisen. Schickes, urbanes Publikum, Geschäftsleute, noch mehr Touristen, ab und zu sitzen auch prominente Gesichter da, Restaurant nach Restaurant. Alle mit offenen Sakkos und dunklen Brillen. Ex-Rapid-Torhüter Helge Payer verzehrt im Orient & Okzident einen Salat, ein asiatisches Grüppchen gönnt sich im Nautilus Cozze. Auch der ORF ist zugegen und filmt die vertrauten Szenen. Plant man beim öffentlich-rechtlichen auch gerade einen Beitrag zum Jubiläum? Sicher ist jedenfalls, dass der Wiener Naschmarkt heuer seinen hundertsten Frühling feiert.
Der Bauch von Wien
Der 100. Geburtstag des „Bauchs von Wien”, wie der Markt auch genannt wird, war der Stadt zumindest 15 Mio. € wert. Seit 2010 machte man sich daran, das 2,3 Hektar große Areal zwischen Kettenbrückengasse und Karlsplatz Stück für Stück zu sanieren. Im Jänner 2016 wurden die Arbeiten dann rechtzeitig zum Jubiläum abgeschlossen. Optisch mag das nicht weiter groß auffallen – eine Begegnungszone wurde auf Höhe Schleifmühlgasse geschaffen und der Untergrund durchgehend neu gepflastert oder asphaltiert. Das Hauptaugenmerk lag dabei auch eher auf „dem Inneren”, in der Erneuerung des Strom- und Wassersystems.
Die berühmten Marktstandl mit den dunkelgrünen Holzleisten müssen im Jahr 2016 nämlich alle Stückerl spielen können, denn nur ein Markt ist hier schon lange nicht mehr. Längst sind Gastronomiebetriebe zum bestimmenden Umsatzbringer geworden. Von den 123 Ständen widmet sich heute etwa nur mehr eine Handvoll dem Obst- und Gemüsehandel. Und die Verbliebenen haben es wahrlich nicht einfach.
Das Dilemma der Nahversorger
„Vor 20 Jahren waren hier noch 95 Prozent reine Marktstandl”, meint Juri K. vom Obsteck Elka. Seit über 30 Jahren betreibt der gebürtigeRusse den Stand an der rechten Wienzeile und hat in dieser Zeit alle optischen und strukturellen Veränderungen im Marktleben miterlebt. „Leider hat man es uns seitens der Stadt nicht leicht gemacht”, beklagt der Unternehmer, „man hat zugelassen, dass hier ganz in der Nähe überall Supermärkte entstanden sind – für uns natürlich eine schwere, billige Konkurrenz.”
Die vielen Touristen unter den Besuchern des Naschmarkts seien an Obst und Gemüse zudem wenig interessiert. Zumindest auf seine Stammkunden könne er aber immer noch zählen. „Schöne Ware und gute Qualität sind mir das Wichtigste”, meint K. „Dafür gibt es bei einigen Leuten immer noch die Bereitschaft, auch ein bisschen mehr zu bezahlen.” Die Ware im Obsteck Elka stammt zu Teilen direkt von Bauern oder vom Großhandel in Inzersdorf, exotische Früchte werden importiert. Bei Gewürzen, Fruchtsäften oder saisonalen Produkten, wie aktuell etwa dem Bärlauch, sei der Gang zum Markt ebenfalls noch weiterhin beliebt.
Noble Fressmeile
Im Schnitt wird der Wiener Naschmarkt von 65.000 Besuchern pro Woche visitiert, bei besonders gutem Wetter sind es auch schon einmal 5.000 mehr. Damit weist er im Vergleich noch bei Weitem die höchste Frequenz auf, zudem mit steigender Tendenz. Von diesem Trend haben aber besonders die klassischen Nahversorger wenig. Ab den frühen 1990er-Jahren hat sich der Markt zunehmend der Gastronomie geöffnet. Dann ging es rasant, und man beschloss, den Anteil an Restaurants auf ein Drittel der Stände zu deckeln.
Von den 123 Ständen sind heute rund 40 offizielle Gastronomie-Betriebe. Geht man an sonnigen Tagen dem Markt entlang, scheinen es gefühlt aber doch mehr zu sein. Tatsächlich besteht auch eine beträchtliche Zahl an Ständen, die von dem Recht Gebrauch machen, Stehtische oder Sitzmöglichkeiten anzubieten. Die normalen Stände müssen um 18:30 schließen. Gastronomen jedoch ist ein längerer Betrieb erlaubt, nach 18 Uhr weiten einige die Fläche ihrer Schanigärten oft sogar noch aus.
Intransparente Vergabe
Zu den Kritikern dieser Entwicklung gehört der Anrainer Peter Jaschke. Zusammen mit rund 600 weiteren Mitgliedern hat er vor knapp drei paar Jahren die Initiative „Rettet den Naschmarkt” gegründet. „Wir haben auch nichts gegen Sushi, Kebab und Wasabi-Nüsse. Aber dass Wien angeblich eine Hochburg der Gemüseproduktion ist, wie im Landwirtschaftsbericht vermeldet, erfahren die Wienerinnen und Wiener leider nicht”, so der Gründer in seinem offenen Brief an den Bürgermeister. „Der Umbau ändert nichts an dem Problem, dass die Händler nichts mehr verkaufen. Stattdessen gibt es touristische Völkerwanderungen, bei denen höchstens fotografiert wird”, kritisierte Jaschke jüngst in der Presse.
Unterstützung in den Forderungen erhält die Initiative auch von den Wiener Grünen; diese beklagen schon seit Längerem, dass sich der Naschmarkt immer mehr zur reinen Nobel-Fressmeile entwickelt, und warnen davor, dass die Funktion als Nahversorger bald womöglich gänzlich verschwunden sein wird. „Wenn wir wollen, dass es den Markt in zehn, 15 Jahren noch gibt, dann muss man handeln”, sagte dazu Gemeinderätin Susanne Jerusalem vor einiger Zeit der Tageszeitung Kurier. Auch die Vergabe der Stände wird immer wieder als intransparent kritisiert; nicht immer findet eine offene Ausschreibung statt. Daneben sind hohe Ablösen bis in Millionenhöhe keine Seltenheit. Regionale Produktanbieter könnten da von Haus aus nicht mitmischen. „Ohne viel Aufwand könnte der Wiener Magistrat dafür sorgen, dass zumindest ein paar, beispielsweise die frei werdenden Marktstände, vorzugsweise an jene Betreiber vergeben werden, die landwirtschaftliche Produkte aus Wien und Umgebung verkaufen”, ist sich wiederum Peter Jaschke von „Rettet den Naschmarkt” sicher.
Angebot und Nachfrage
Seit einer Flächenumwidmung im Jahr 2009 zählt der Naschmarkt gänzlich zum Verwaltungsgebiet des sechsten Bezirks. SPÖ-Bezirksvorsteher Markus Rummelhart kam vor einiger Zeit mit der Idee, für die Nahversorgung eine eigene Markthalle auf der Parkfläche hinter der Kettenbrückengasse aufzubauen – auf dieser Fläche findet derzeit immer Samstags der Flohmarkt statt. Eine Mehrheit fand sich für dieses Vorhaben jedoch nicht. Den Ärger über die jetzige Marktsituation kann der Bezirkschef jedenfalls trotzdem nicht nachvollziehen. „Würden mehr Leute hier Obst und Gemüse einkaufen, würde es auch mehr solche Stände geben”, bemühte er einst den Standpunkt von Angebot und Nachfrage. Dass sich unter den Gastronomen auch SP-Leute mit Einfluss, wie der Wirtschaftskammer-Funktionär Akan Keskin, befinden, sei hier nur am Rande erwähnt.
Aus „Asche” wurde „Naschen”
Genau genommen feiert der Wiener Naschmarkt sein 100-Jähriges nur in der jetzigen Form, denn die Geschichte dieses Markts reicht bis in das 18. Jahrhundert zurück. 1774 lag der Naschmarkt noch außerhalb der damaligen Stadtmauern im Bereich des Kärntnertors, wo heute die Wiedner Hauptstraße entlangführt. Zu Beginn wurde er übrigens „Aschenmarkt” genannt, erst seit 1820 rufen ihn die Leute „Naschmarkt”, was wohl auf die besondere Verfügbarkeit von damals exotischen Süßwaren wie kandierten Früchten zurückzuführen war. Im Zuge der Wienfluss-Regulierung wurde der Markt dann 1895 auf den Standort zwischen rechter und linker Wienzeile verlegt, was eigentlich nur provisorisch gedacht war.
Ab 1902 wurden dann drei fixe Zeilen mit Marktpavillons errichtet, die jeweils parallel zueinander standen. Den Abschluss des Naschmarkts an der Kettenbrückengasse bildeten das Marktamtsgebäude im Jahr 1916 von Friedrich Jäckel, der auch den gesamten neuen Naschmarkt konzipierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Markt mehrere Jahrzehnte eher als unglamourös, er war gar als „Rattenloch” oder „Schandfleck” verschrien. Heute greift man wohl nicht mehr zu solchen Begriffen. Inwiefern das der Verdienst der wachsenden Trend-Gastronomie ist, oder doch nur auf einen eher ramschigen Tourismus-Boom zurückzuführen ist, darüber wird wohl weiter gestritten werden.