Unterwasser-Gemüse und Fisch am Dach: Die Food-Branche ist im Umbruch – von der Industrie über den Handel bis hin zur Gastronomie. In Kooperation mit der deutschen Lebensmittel Zeitung ging das Zukunftsinstitut, einer der einflussreichsten Think-Tanks der europäischen Trendforschung, der Zukunft und Gegenwart der Ernährung auf den Grund. Für den Food Report 2017 beleuchtete Foodtrendforscherin Hanni Rützler die großen und kleinen Visionen in der Branche; medianet präsentiert Ihnen Auszüge daraus:
It's the angle of view, stupid!
Ein beliebter Mythos der Lebensmittelbranche handelt von ihrer besonderen Dynamik und Innovationsfreudigkeit. Tatsächlich erwecken die saisonal auftauchenden Hypes um Produkte mit Superfoods oder die nächste Generation von „Free From”-Fabrikaten den Eindruck eines sich ständig und dynamisch entwickelnden Wirtschaftszweigs. „Doch ist das tatsächlich so?” fragt Hanni Rützler und beleuchtet innovative Best Practices, hinter denen mehr steckt als mehr oder weniger gelungene Imitationen: „It’s the angle of view, stupid!”
Ein Beispiel dafür ist „Nemo's Garden”, ein Unterwassergarten: Wie kann man in Ländern Landwirtschaft betreiben, deren Böden sich nicht dafür eignen? Auf diese Frage findet Sergio Gamberini mit seinem Projekt Nemo’s Garden eine ungewöhnliche Antwort, die auch noch klimafreundlich ist: indem man sie nämlich ins Meer verlagert.
Vor der Küste der italienischen Stadt Noli befinden sich in bis zu zehn Metern Tiefe durchsichtige, nach unten geöffnete und mit Luft befüllte Ballons, die mit Ankern am Meeresgrund befestigt sind. In diesen Ballons, den Biosphären, sind Behälter mit Samen von Basilikum, Kopfsalat, Bohnen oder Erdbeeren angebracht. Durch Sonneneinstrahlung verdunstet das Salzwasser im unteren Teil der Ballons, kondensiert am oberen Rand und regnet als Süßwasser auf die Pflanzen herab. Da die Pflanzen mit Sensoren ausgestattet sind, können ihre Werte jederzeit online überprüft werden (mehr dazu: www.nemosgarden.com).
Fisch ist zur Massenware geworden. Ob als Sushi oder Lachsbrötchen, als Fischstäbchen oder als Dorade Royal aus dem Tiefkühlregal – fast überall bekommt man ihn. Wissenschaftler erforschen derzeit, dass und wie sich selbst Kräuter und sonstiges Gemüse hervorragend unter Wasser ziehen lassen. So oder so: Das Meer erfindet sich gerade neu – und wird zu „mehr”.
Einen ganz besonderen Weg geht das Projekt „Urban Farmers”, Gemüse und Fisch, frisch vom Dach: Das Start-up Urban Farmers verfolgte schon früh die Idee der Nahrungsmittelproduktion im urbanen Raum. Auf einem Flachdach in Basel installierte das Schweizer Unternehmen die weltweit erste Aquaponic Rooftop Farm: 250 m2 Grundfläche, auf denen jährlich etwa 5 t Gemüse und 850 kg Fisch produziert werden. Basels Restaurants und Supermärkte sind regelmäßige Abnehmer, die Ernte wird noch am selben Tag per Fahrrad geliefert – ganz ohne CO2- Emissionen. Bereits 2011 gewannen die Urban-Farming-Pioniere den Schweizer Nachhaltigkeitspreis. Und noch 2016 planen sie die Eröffnung von Europas größter Urban Rooftop Farm in den Niederlanden (www.urbanfarmers.com).
Gastro-Trend I: Californication
Kalifornien ist eine jener „Essential Food Destinations”, von denen entscheidende Impulse für die kulinarische Zukunft ausgehen. Und zwar weltweit. Es sind nicht nur die Spitzenköche, die Anreize schaffen, sondern funktionierende Netzwerke zwischen Produzenten, Verarbeitern und Konsumenten.
Entscheidende gastronomische Impulse, heißt es im Foodreport 2017, gehen in Zukunft nicht mehr von einzelnen überragenden Köchen (wie einst etwa von Paul Bocuse) aus, nicht mehr von großen nationalen Küchentraditionen (wie Frankreich oder Japan) und auch nicht mehr von touristischen Hotspots (wie Thailand). Entscheidende gastronomische Impulse gehen in Zukunft von branchenübergreifenden Netzwerken aus, die sich zu bestimmten Zeitpunkten an konkreten – meist urbanen – Orten entfalten. Sei es bewusst und strategisch angelegt – wie im Fall der New Nordic Cuisine – oder sei es als Ergebnis einer mehr oder weniger genuinen Entwicklung aufgrund günstiger Rahmenbedingungen – wie bei der New California Cuisine.
Aus diesen Netzwerken entsteht – wie in Los Angeles oder der Bay Area um San Francisco – etwas, das Studienautorin Rützler als „Essential Food Destinations” bezeichnet: überschaubare Regionen, die zu kulinarischen Kristallisationspunkten werden, die Impulse ausstrahlen und deren Attraktivität, Innovationskraft und Dynamik ansteckend wirkt und somit auch Entrepreneure in anderen Regionen ermutigt, ähnliche Wege zu beschreiten.
Bei der New California Cuisine etwa geht es nicht nur ums Kochen: Statt sich als Konkurrenten zu sehen, bilden Köche, Produzenten und Lieferanten zusammen mit den Privatverbrauchern ein großes Netzwerk, in dem umweltpolitische Faktoren eine ebenso wichtige Rolle spielen wie soziale und (multi-)kulturelle Aspekte. Die Förderung von Ideen und der Austausch von Erfahrungen ist konstitutiver Bestandteil der kalifornischen Arbeitskultur, wie sie im Silicon Valley und von vielen Start-ups gelebt wird. Als ein Referenzbeispiel dafür wird Perry’s Inverness Park Grocery, zitiert, ein „Tante-Emma- Laden mit Küchenchef”.
Auf dem Weg zur Point Reyes National Seashore ist ein Stop bei Perry’s Inverness Park Grocery ein Must-do: eines der vielen Delis in Kalifornien mit herausragenden frischen Produkten und individuell vor den Augen der Kunden zubereiteten, mehrstöckigen To-go-Sandwiches. Aber Perry’s punktet noch mit zwei anderen Assets: Es leistet sich mit Ed Vigil einen eigenen Chefkoch, der mittags elegante, italienisch inspirierte Tellergerichte serviert. Und es bietet neben dem eigenen Feinkostangebot auch Gail Coppinger, einer Bio-Bäuerin der Region, die Möglichkeit, im Laden einen Stand mit ihren eigenen Produkten zu betreiben (www.perrysinvernessparkgrocery.com).
Gastro-Trend II: Essthetik
Das Rezept für ein erfolgreiches Restaurant basiert nicht nur auf der Qualität der Ausgangsprodukte, dem Können der Köche und der Kompetenz des Servicepersonals. Erst ein gelungenes, integratives Design, das die jeweilige Küchenphilosophie zum Ausdruck bringt, garantiert ein kulinarisches Gesamterlebnis. Der Schönheit und ihrem kleinen Bruder, dem Design, kommt auch beim Essen eine wichtige Rolle zu; sie ist heute vor allem ein Kommunikationsmittel. Denn nicht nur das Auge isst mit, wie es das alte Sprichwort sagt. Auch die Werte sitzen mit am Tisch.
Viele Food-Trends der letzten Jahre, die in der Gastronomie deutliche Spuren hinterlassen haben, spiegeln sich nicht nur auf den Tellern, sondern auch in den Tellern – nicht nur in der Wahl der Ausgangsprodukte und der Komposition der Speisen, sondern auch in der Wahl der Teller, Tassen und Schalen, in denen Speisen serviert werden, im Besteck, mit dem wir sie zum Mund führen. Und natürlich auch im Restaurantdesign.
Unterschiedliche Trends, differenziertes Design ist mehr denn je der Botschafter der jeweiligen Küchen- und Qualitätsphilosophie, und zwar in der Systemgastronomie genauso wie in der gehobenen Küche. Beispiel: Catit mit dem Konzept „Teller für Instagram und Facebook”; das Restaurant Catit in Tel Aviv reagiert auf den Instagram-Trend, Food-Bilder zu posten, indem es das Essen auf Tellern serviert, die so gestaltet sind, dass sie das perfekte Foto ermöglichen. Mithilfe einer an den Tellern angebrachten Handyhalterung kann das Essen vor dem Verzehr bequem abgelichtet und unter dem Hashtag #fdgr, kurz für Foodography, gepostet werden (siehe Bild unten). Auch das Licht im Restaurant ist optimal auf das Fotografieren abgestimmt. Außerdem werden Seminare mit Food-Fotograf Dan Perez angeboten, der Tipps gibt, wie man die besten Instagram-tauglichen Food-Bilder schießt (www.catit.co.il).
Viel mehr lesen Sie im neuen Food Report 2017. Hanni Rützler, Wolfgang Reiter; Juni 2016, 116 Seiten, ISBN: 978-3-945647-31-8, 125 € zzgl. MwSt.