KLAGENFURT. Die wohl überraschendste Erkenntnis aus der Pandemie ist, dass man offenbar auch mit der Hälfte der Belegschaft der Unternehmen imstande sei, 84 Prozent der Wirtschaftsleistung zu generieren, rechnete Christian Helmenstein bei der Mitgliederversammlung der Industriellenvereinigung Kärnten vor – zumindest vorübergehend. Die durch Lockdown & Co erzwungenen Maßnahmen haben in Österreich ungewollt gigantische Potenziale zur Produktivitätssteigerung aufgezeigt.
Deshalb geht der IV-Chefökonom von einer steigenden Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten aus. Helmensteins Rat: „Wir müssen Menschen produktiv beschäftigen, also dort, wo Exportchancen und neue, digitale Geschäftsmodelle winken.“ Voraussetzung seien allerdings Umschulungen und Neuqualifizierungen im großen Stil: etwa vom durch den Online-Handel in Bedrängnis geratenen stationären Einzelhandel in die Industrie – und das natürlich „digitalisierungskompatibel“.
Technologie schlägt Tourismus
Helmenstein begründet das auch in anderer Hinsicht überzeugend: Erstens habe die Krise gezeigt, dass Branchen und Betriebe mit höherer Technologieorientierung tendenziell deutlich weniger betroffen seien. Zweitens spielen die technologie- und wissensorientierten Unternehmen (T&W) volkswirtschaftlich gesehen in einer ganz anderen Liga. Helmenstein vergleicht sie mit dem Tourismus. Beide Branchen zählen ungefähr gleich viele Betriebe in Österreich. Es sind jeweils rund 13 bis 14 Prozent vom Gesamtbestand. Aber wie groß sind die Unterschiede! T&W beschäftigen zweieinhalbmal so viele Mitarbeiter, zahlen sechsmal so hohe Lohnsummen und erzielen einen zehnmal so hohen Bruttoproduktionswert.
Das hat natürlich hohe und brisante Relevanz für Kärnten, wenngleich sich der IV-Chefökonom und Vorsitzende des Kärntner Wirtschaftspolitischen Beirats aus der politischen Aktualität bewusst heraushielt. Das Bundesland sei ähnlich wie Gesamtösterreich vor allem in drei Bereichen stark von der Corona-Pandemie betroffen: bei den Sonstigen Dienstleistungen (Verkehr, Sport, Kultur), im Tourismus und in der Industrie. Allerdings auf sehr unterschiedliche Weise: Während etwa die Elektronikindustrie sogar ähnliche Wirtschaftsdaten wie im Vorjahr aufweise, liegen die Maschinen- und Anlagenbauer weit darunter. Ebenso habe der Tourismus an den Seen zeitweise profitiert, während der in den Städten weniger gut abschneide. Ohne den erfolgreichen Sommertourismus um die Seen hätte die Schrumpfung der Kärntner Wirtschaft sogar mehr als neun Prozent betragen, so sind es nach der aktuellen Berechnung -7,8 Prozent.
Heuer kein Tigerstaat
Ein hörbares Aufmerken erregte auch die Bestandsaufnahme zur Krise und ihren drastischen Wirkungen weltweit. Seit dem Jahr 1960 habe es kein Jahr gegeben, in dem nicht wenigstens ein so genannter „Tigerstaat“ mehr als vier Prozent reales Wirtschaftswachstum generiert habe. Selbst in der Finanzmarktkrise 2009 konnten unter den 25 größten Volkswirtschaften mit China, Indien und Indonesien noch drei Tigerstaaten verzeichnet werden. 2020 werde als Jahr ohne große Tigerstaaten in die Annalen eingehen. Zwar hätten sich die Stimmungsindikatoren wieder deutlich erholt, realwirtschaftlich müsse man aber vom „asymmetrischen V“ (schneller Absturz, langsame Erholung) ausgehen. Die wirtschaftspolitische Unsicherheit sei einfach zu groß. Das drohende Brexit-Desaster, die Entwicklungen in Weißrussland und der Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei kämen zu den schon bestehenden Unsicherheiten noch dazu und wirkten investitionshemmend.
Die Globalisierung sieht Helmenstein bei Weitem nicht am Ende. Er teilt zwar die Meinung, dass sich manche Lieferketten verkürzen werden, aber umso stärker werde man dann die Produktionsstätten diversifizieren müssen. Minutiös analysiert er die negativen Folgen von protektionistischen Maßnahmen. Er spricht lieber von der „Beeinträchtigung ausländischer Geschäftsinteressen“, also unserer eigenen, die bei weitem nicht nur in Form von Zöllen erfolge, sondern auch durch Export- und Zinssubventionen, nicht-tarifäre Handelshemmnisse, unzugängliche öffentliche Beschaffungsmärkte, etc. passiere. Zugleich appelliert er an die EU-Mitgliedsstaaten, einen integren Binnenmarkt zu erhalten. Denn freier Handel generiere Wohlstand.
2030 alles überstanden?
Ausführlich widmete sich Christian Helmenstein der Bewältigung der Krise. Er zeichnet hier den Pfad eingebremster Ausgabendynamiken vor und wandte sich kategorisch gegen höhere Steuern. Schaffe Österreich bis 2023 ein ausgeglichenes Budget, dann seien die Corona-Folgen bis 2030 überstanden. Als einen für verminderte Ausgabendynamiken prädestinierten Bereich benennt Helmenstein das Gesundheitswesen. Hier könne durch einen wesentlich verstärkten Einsatz von Technologie (z.B. Robotik, Telemedizin) in Krankenhäusern und Pflegeheimen eine deutliche Effizienzsteigerung realisiert werden. Zusätzlich erreiche man, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen mehr Zeit für die Arbeit am Patienten gewinnen.
Auf die Frage von Infineon-Technologies-Austria-Chefin Sabine Herlitschka, wie man in diesem Szenario etwas für den Klimaschutz tun könne, sprach Helmenstein innerökologische Zielkonflikte als größten Hemmschuh an. Als Beispiel nannte er hier den unter Klimaschutzaspekten vorteilhaften Ausbau der Bahn, der aber in einer Zielrivalität mit der Verringerung des Bodenverbrauches oder dem Lärmschutz stehe. (pj)