••• Von Alexander Haide
Mit Sorge blickten Touristiker noch im Herbst auf die Wintersaison 2022/23. Werden die Gäste nach der Pandemie wiederkommen? Bleiben Wintersportler wegen der Inflation und der Energiekrise lieber zu Hause, als in Österreich Sport und Spaß im Schnee zu suchen? Die aktuellen Zahlen überraschen – auch Tourismusexperten. Holger Sicking, Leiter der Tourismusforschung bei der Österreich Werbung, erklärt, warum die Buchungslage besser als erwartet ist, und wie es weitergehen könnte.
medianet: Die Vorzeichen für den Winter sind offenbar gut. Kommt das angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen überraschend?
Holger Sicking: Anfangs hat mich die positive Stimmung selbst überrascht. Die Buchungszahlen und Auslastungsprognosen sind in der Tat sehr gut. Das gilt nicht nur für die klassischen Skiregionen, sondern gerade in der Weihnachtszeit auch für die Städte. Auch die Winterpotenzialstudie der Österreich Werbung in zehn Ländern ergab unisono, dass die Menschen Lust auf das Reisen haben. Sie haben Zeit und das Geld dafür. Es planen so viele Menschen Reisen wie in Zeiten vor der Pandemie. Trotz aller aktuellen Herausforderungen kann es also ein guter Winter werden.
medianet: Sind die Menschen ausgehungert nach Urlaub?
Sicking: So drastisch würde ich es nicht formulieren. Wir begeben uns zurück in die Normalität. Die Menschen, die skifahren gehen wollen, sind eine spezielle Zielgruppe. Bei einem Skiurlaub spielt psychologisch gesehen eine große Sehnsucht nach Freiheit bei gleichzeitiger Kontrolle eine Rolle. Beides gab es in den vergangenen Jahren nicht. Wir hatten in der Pandemie keine Freiheit zu reisen, waren fremdbestimmt.
medianet: Aber de facto ist derzeit nichts normal. Nach Corona folgte der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise …
Sicking: Ja, diese Instabilität und das Fremdbestimmtsein sehen wir jetzt auch, aber unter anderen Vorzeichen. Jetzt geht es um das Thema Preise, Energie und andere Faktoren. Eine gewisse Unsicherheit kehrt zurück. Die Selbstbestimmung findet man dann wieder beim Wintersport. Wir sind also von der Pandemie in das nächste psychologische Konstrukt geschlittert …
medianet: Ist dieses Prinzip auch für die kommende Sommersaison anwendbar?
Sicking: Da ist das Prinzip nicht so stark wie im Winter, aber Freiheit ist auch wichtig, denn ich komme heraus aus den Sorgen des Alltags. Danach gierten die Menschen schon immer, das hat sich jetzt verstärkt. Vorherzusagen, wie es im Sommer sein wird, ist anhand der Datenlage noch zu früh. Grundsätzlich ist Urlaub ein wertvolles Gut und es muss schon sehr viel passieren, dass die Menschen auf ihre Urlaubsreise freiwillig verzichten.
medianet: Also kein Verzicht trotz desaströser Wirtschaftsaussichten?
Sicking: Wer den Gürtel enger schnallen muss, verzichtet auf Zweit- und Drittreisen, aber nicht auf den Urlaub an sich. Man sucht bereits im Vorfeld ein günstigeres Reiseziel, eine günstigere Unterkunft oder nimmt sich vor, im Urlaub zu sparen. Das muss nicht unbedingt ein Nachteil für Österreich sein. Man verzichtet eher auf eine Fernreise und reist ‚nur' in die Alpen. Sollte es zu einer Rezession kommen, wird das alle Des-tinationen betreffen; Österreich könnte hier aufgrund seines äußerst diversen Angebots mit einem blauen Auge davonkommen. Zudem gibt es vor allem beim Wintersport den Vorteil der unterschiedlichen Zielgruppen. 50 Prozent sind Akademiker, das Einkommen ist überdurchschnittlich hoch. Im Sommer liegt dieser Anteil bei immerhin 40 Prozent. Zudem sind die Hälfte der Touristen Stammgäste.
medianet: Ist da auch Fatalismus dabei, nach dem Motto ‚Urlaub machen, solange die Welt noch steht und er leistbar ist'?
Sicking: Das können wir aus unseren Studien nicht herauslesen, das wäre auch irrational. Natürlich denken Menschen darüber nach, wie es ihnen in einem halben Jahr gehen wird. Der Anteil, der seine wirtschaftliche Situation in der Zukunft schlechter einschätzt, ist gewachsen. Diese Gruppe plant dann auch seltener einen Winterurlaub.
medianet: Inwiefern spielt die Inflation eine Rolle und die Angst, dass man im kommenden Jahr weniger für sein Geld bekommt?
Sicking: Wie gesagt, Belege haben wir dazu keine gefunden. Unterbewusst mag das bei dem ein oder anderen eine Rolle spielen.
medianet: Werden die Österreicher vermehrt den Urlaub im eigenen Land verbringen und weniger Fernreisen buchen?
Sicking: Ja, diese Tendenz gibt es, denn man mag Sicherheit und Überschaubarkeit. In Österreich kennt der Gast die Preise, und man weiß, was einen am Urlaubsort erwartet.
medianet: Österreich könnte im mittleren und unteren Preissegment also zu den Gewinnern zählen?
Sicking: Das ist schwierig zu prognostizieren, könnte aber durchaus der Fall sein. Es gab neben Corona im vergangenen Sommer aber noch andere prägende Themen, etwa das Flugchaos. Innerhalb Europas dürfte das Problem auch noch nicht gelöst sein. Das haben sich die Menschen gemerkt und es schwingt bei der Entscheidung für die Urlaubsdestination mit. Das ist ebenfalls ein Vorteil für Österreich, da bis zu 85 Prozent der Urlauber mit dem Auto oder der Bahn anreisen.
medianet: Könnte der Arbeitskräftemangel den Tourismus in puncto Qualität beschädigen?
Sicking: Das betrifft alle Destinationen und nicht bloß Österreich. Was wir in den vergangenen Monaten beobachten können, ist, dass die Zufriedenheitswerte leicht sinken. Wenn das Level der Angebote und des Service gleichbleibt, die Preise aber steigen, ist auch die Erwartungshaltung größer. Die Zufriedenheit ergibt sich aus der Erwartung und deren Erfüllung. Wenn die Preise für die gleichen Leistungen steigen, sind die Kunden unzufriedener. Da müssen sich die Anbieter mehr anstrengen. Vieles kann durch die familiäre Gastgebermentalität und Gastgeberqualität in Österreich wettgemacht werden. In Österreich geht es nicht nur um die harten Fakten.
medianet: In manchen Skigebieten beginnt man sich wegen des zu warmen Wetters, der hohen Energiekosten und des Mitarbeitermangels Sorgen um die Wintersaison zu machen. Sind die Sorgen berechtigt?
Sicking: Gäste mit längerem Anreiseweg, etwa aus den Niederlanden oder nördlich von Bayern, haben oftmals bereits gebucht. Sie kommen auch, wenn es ein bisschen wärmer ist. Die sonstigen Rahmenbedingungen sind ihnen eigentlich bewusst. Schwieriger wird es bei Gästen, die flexibler sind und kurzfristiger entscheiden.
Die Winterpotenzialstudie der ÖW (10.000 Befragte aus zehn Ländern) kann hier abgerufen werden:
to.austriatourism.com/winter