Seit mehr als einem Jahrzehnt ist Klaus Luger Bürgermeister der oberösterreichischen Industriemetropole. Der 63-Jährige hat ausreichend Expertise. Bevor er am 7. November 2013 zum Linzer Bürgermeister gewählt wurde, war er nicht nur bereits zuständiger Stadtrat für Raumplanung, Baurecht und Personal gewesen, sondern auch Führungskraft in den Unternehmen der städtischen Unternehmensgruppen. Im Interview spricht er über die grüne Transformation der Stadt und wie diese als Enabler dafür auftreten kann.
medianet: Was ist eine klimaneutrale Industriestadt?
Klaus Luger: Konkret soll die Industrie bis 2050 CO2-neutral produzieren, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. In Linz geht es primär um die Branchen Stahl, Chemie und Maschinenbau. Ermöglicht werden soll das durch den Einsatz von Green Hydrogen. Die Weichen, vor allem in der Stahlproduktion mit dem ersten Lichtbogenofen, sind bereits gestellt. 2027 wird der erste dieser Art bei der voestalpine in Betrieb gehen. Darüber hinaus geht es um die CO2-Neutralität der gesamten Stadt. Dies wollen wir bereits bis 2040 erreichen.
medianet: Worum geht es abseits der Industrie?
Luger: Wichtig sind Gebäudesanierungen und der Ausbau des öffentlichen Verkehrs, der auf erneuerbare Elektroenergie umgestellt werden soll. Eine zentrale Herausforderung stellt zudem die Produktion von Wärme und Strom dar. Linz hat eine Sonderstellung. Als einzige Landeshauptstadt produzieren wir Strom selber. 40 Prozent unserer Wärmeerzeugung sind schon auf Basis erneuerbarer Energie, der Rest soll bis spätestens 2040, lieber früher, aus diesen Quellen kommen.
medianet: Wie kann die Stadt gegenüber dem privatwirtschaftlichen Sektor als Enabler auftreten?
Luger: Als Netzbetreiber stehen wir als Stadt in der Verantwortung und müssen unseren Beitrag leisten. Bei der Umstellung auf grünen Wasserstoff ist es unsere direkte Verantwortung, die Stadt Linz muss die Leitungsnetze für den Transport der grünen Technologie tauglich machen. Dazu muss die Kapazität des Stromnetzes massiv ausgebaut werden, gleichzeitig müssen aber auch die Weichen gestellt werden, um das bestehende Gasnetz für den Wasserstofftransport vorzubereiten. Technisch ist die Frage schon geklärt, organisatorisch und betriebswirtschaftlich noch nicht. Es ist also unsere Aufgabe vor Ort, die Infrastrukturen für die Unternehmen zu gestalten. International geht es jedoch um Regulatorien auf europäischer Ebene, die endlich von der Bundesregierung aktiv in Angriff genommen werden müssten.
medianet: Was meinen Sie damit?
Luger: Die Industrie ist Teil der DNA unserer Stadt und Basis unseres Wohlstands. Darum tritt die Stadt als Fürsprecherin auf. Man soll nicht ständig von Ausgaben sprechen – jede technologische Transformation bedeutet Veränderungen und Schwierigkeiten. Auf der Habenseite befinden sich neue Chancen. Ich denke an die Wasserstoffindustrie, also Hard- und Software wie Speicherkapazitäten oder andere Formen entlang der Wertschöpfungskette.
medianet: Wie tut Linz das?
Luger: Im Vorjahr haben wir mit der ‚H2 Convention' aufgezeigt, welche Chancen in der Entwicklung der Wasserstoffwirtschaft liegen, wie die Wertschöpfungskette verlängert werden kann. Es gibt erste Kleinunternehmen, die Speichersysteme in einer Linzer Nachbargemeinde entwickelt haben, vollkommen unbemerkt. Es fehlen aber Partner in der Umsetzung. Wir haben sie auf die Bühne geholt und mit Forschungsinstituten, beispielsweise aus Deutschland, connected. Oder Primetals – das Unternehmen entwickelt die Abkehr von konventioneller Stahlproduktion. Deren moderne Lichtbogenöfen führen zu niedrigeren Betriebskosten und deutlich weniger CO2-Emissionen. Das ist ein enormes Investment, das auch mit Risiko verbunden ist. Es bietet aber gesamtökonomisch und -ökologisch Perspektiven, die es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat.
medianet: Kann man es so vergleichen – wenn man will, dass Menschen eAutos statt Verbrenner fahren, muss man genügend Stromtankstellen zur Verfügung stellen, die eAutos müssen sich die Menschen aber selber kaufen?
Luger: Genau. Es gibt sowohl Druck als auch Awareness, auf grünen Wasserstoff umzusteigen. Daraus ergeben sich für Linz Chancen. Nichts zu tun, war früher mehrheitsfähig. Heute ist das Bewusstsein viel höher, sowohl in den Managements als auch in der Bevölkerung. Aber so können sich auch neue Unternehmenszweige aufbauen. Das gab es früher schon, als in den 1980er- und 1990er-Jahren die Linzer Luft saniert wurde, weil die voestalpine damals eine Dreckschleuder war. Zunächst musste man die Unternehmen zwingen, Luftfilter zu verwenden, heute sind sie gar nicht mehr wegzudenken. Die Technologie, die hier entwickelt wurde, war dann über 20 Jahre lang eine Cashcow für die voestalpine und die Partner.
medianet: Klimaschutz ist ein Muss, allerdings gibt es auch rechtliche Vorgaben für die Zielerreichung; es muss auch wirtschaftlich abbildbar sein.
Luger: Letztlich geht es um Standortsicherheit. Neben den bekannten Industriebetrieben hat aber auch die Stadt mit der Linz AG einen Konzern. Der Aufsichtsrat hat ein zusätzliches Investmentprogramm in der Höhe von 1,2 Milliarden Euro beschlossen. Das inkludiert etwa eine Photovoltaik-Offensive oder eine halbe Milliarde Euro alleine für das Stromnetz. Wir benötigen 150 neue Transformatoren sowie neue Umspannwerke, auch für die privaten Haushalte. Um aus der Gasabhängigkeit aussteigen zu können, braucht es ebenfalls mindestens eine halbe Milliarde Euro, um Wärmetauscher zu installieren oder Biogase produktiv zu nutzen. Das sichert eben Arbeitsplätze und Wertschöpfung, aber es benötigt auch das Verständnis der Bevölkerung.
medianet: Wie erreicht man dies?
Luger: Oftmals gibt es die Diskussion über Entweder-oder-Entscheidungen. Vor 50 Jahren fragte man: Neues Rathaus oder Brucknerhaus? Wir haben beides gemacht. So wird es auch bei Industrie und Klimaschutz sein. Manche meinen, man sollte so weitermachen wie bisher. Da sage ich aber: Game over. Die Regulative sind da eindeutig, auch was die Höhe der Strafzahlungen betrifft. Das alleine wäre schon standortgefährdend. Die Menschen haben mittlerweile auch ein Bewusstsein dafür, dass wir nicht alle Maßnahmen dem ökonomischen Wohl unterordnen können. Ich bin deswegen Optimist, weil ich denke, dass sich die Frage Industrie oder Klimaschutz gar nicht stellt. Bei uns gibt es beides und wird es beides auch in Zukunft geben.
medianet: In Zeiten hoher Inflation gibt es allerdings auch Verlustängste und die Frage, ob das Geld nicht woanders besser ausgegeben wäre …
Luger: Ich habe noch nicht auf alle Fragen konkrete Antworten. Wenn wir mit der Linz AG Geld investieren, ist das im Wesentlichen ja Geld, das wir zuvor in Form von Tarifen und Gebühren von unseren Kundinnen und Kunden eingenommen haben. Ich sehe uns als politische Verantwortungsträger gefordert, ehrlich zu sein. Man darf den Menschen keinen Sand in die Augen streuen – die bis zum russischen Überfall auf die Ukraine niedrigen Energiepreise gehören der Vergangenheit an. Selbst wenn es zwischenzeitlich zu einer Entspannung am Energiemarkt kommt, werden die Ausgaben in diesem Bereich in Zukunft einen höheren Anteil der Haushaltsausgaben ausmachen. Die Energiewende wird nicht kostenlos sein.
medianet: Analysiert man die Einkommensverhältnisse der letzten Jahre, stellt man fest, dass es die Mittelstandsfamilien sind, die den größten realen Kaufkraftverlust hatten.
Luger: Bis vor zwei Jahren sind die Löhne mit den tatsächlichen, höheren Lebenshaltungskosten nicht mitgestiegen. Energie wird da ein Symbol werden. Es wird für vermutlich die Hälfte der 250.000 Haushalte dieser Stadt kein Problem sein, mehr zu zahlen. Bestimmte Einkommensgruppen werden sich damit nicht so leicht tun, ihre materiellen Bedürfnisse zu erfüllen. Strom und Wärme müssen in Zukunft sozial gerecht verteilt werden, weil die Menschen ein Recht auf ein gutes Leben haben. Das Wie muss vor allem bürokratisch überlegt werden, aber wir werden einen Ausgleich finden müssen. Menschen in hohen Einkommensschichten werden das aushalten – und wenn sie jammern, haben sie Probleme mit sozialer Empathie. Bei anderen Menschen geht es nämlich um viele Entscheidungen im Alltag. Da muss die Gesellschaft eingreifen.
medianet: Demokratie basiert auf Dialog und Kompromiss. In Paris wird Klimaschutz durch Bürgermeisterin Anne Hidalgo oft verordnet. Ein Vorbild?
Luger: Madame Hidalgo macht das in Paris wirklich toll, für mich ist es aber kein Role Model. Es braucht meiner Ansicht nach zwei Dinge, die in Österreichs Politik mehr Raum haben sollten: Man muss objektiv informieren und versuchen, ein Commitment der Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Zu sagen, dass wir die Energiewende ohne Preiserhöhungen schaffen, ist falsch und fatal. Jeder weiß, dass das nicht stimmt. Man kann den Menschen die Wahrheit zumuten und kann mit ihnen diskutieren. Es geht darum, sich miteinander auf inhaltlicher Ebene auseinanderzusetzen und nicht nur gegenseitig die Meinung zu sagen. Ich bin seit 32 Jahren in der Kommunalpolitik und weiß, dass das ein naiver Zugang ist, um alle zu erreichen. Das ist aber auch nicht das Ziel. Man muss wesentliche Teile der Bevölkerung mit im Boot haben, um einen Grundkonsens herzustellen. Es gibt bei jedem Thema 20 Prozent Leugner.
medianet: Wie sieht also der Weg aus zur klimaneutralen Industriestadt?
Luger: Die Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, was wir vorhaben – mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Meine Erfahrung bei kommunalen Projekten, die umstritten waren, ist: Mit Drüberfahren erreicht man gar nichts. Wenn man gute Argumente richtig kommuniziert, kann es klappen. Wir sind in einer Situation, in der es zu handeln gilt. Es geht nicht um Weltuntergangsstimmung, aber das Klima darf uns nicht egal sein. Ich sage es auch ganz deutlich: So wie ich es heute sage, habe ich es nachweislich vor zehn Jahren nicht in dieser Klarheit gedacht. Ich habe es damals auch nicht so empfunden. Ich erlebe es auch bei meine Alterskollegen, die kurz vor Pension stehen: Es geht nicht nur die Jugend etwas an, wir beschäftigen uns alle mit der Energiewende und dem Klimaschutz, weil es wichtig ist.