••• Von Paul Christian Jezek
Rund 51,4% der Wähler haben laut vorläufigem Ergebnis für die von der Regierung Recep Tayyip Erdogan propagierte Verfassungsänderung gestimmt, ein für das Unterstützerlager eher enttäuschendes – wenn auch nicht katastrophales – Ergebnis. Überraschenderweise haben die Bewohner von 13 der 20 größten Städte der Türkei, die für 88% des Bruttoinlandsprodukts stehen, mit „Nein“ gestimmt. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts dürfte vorerst anhalten; angesichts steigender Arbeitslosigkeit und der Notwendigkeit, die Öffentlichkeit positiv zu stimmen, kann es sich Erdogan nicht erlauben, dass sich die Wirtschaft abschwächt. Die Regierung dürfte dementsprechend versuchen, den produzierenden Sektor und den privaten Konsum weiterhin zu stärken. Letzterer bestimmt rund 70% des BIP. Auch wenn sich das Haushaltsdefizit graduell weiter verschlechtert, ist die Gesamtlage immer noch durchaus solide: Die Schuldenquote des Staatshaushalts liegt bei 32%, das Haushaltsdefizit bei gut 2%. Kritisch bleiben jedoch die impliziten Garantien, welche die Öffentliche Hand dem Privatsektor gibt.
Die aktuellen Auswirkungen
„Die Wirtschaft wird jetzt an erster Stelle der Prioritätenliste stehen“, erklärte Finanzminister Naci Agbal. Das Wachstum solle dabei nicht vom Staatssektor ausgehen, sondern von der Privatwirtschaft. Die Regierung werde zudem keine Steuermaßnahmen beschließen, welche die Inflation weiter nach oben treiben könnten. Die Verfassungsänderung werde nichts daran ändern, dass sich die Lira abschwäche, erklären Analysten der deutschen Commerzbank. Die Landeswährung hatte in den vergangenen Monaten wegen der politischen Krise und Terroranschlägen in der Türkei kräftig an Wert verloren: Allein seit Jahresbeginn verlor die Lira fast 4%. Appelle der Regierung an die Türken, ihre Dollarreserven in Lira zu tauschen, zeigten kaum Wirkung. Die Anleger haben aus Sorge über den politischen Kurs das Vertrauen in die Währung verloren, die binnen eines Jahres um rund 30% zum Dollar abgewertet hat. Das verteuert die Importe des rohstoffarmen Landes.
Rückgang der Investitionen
Die schwache Lira wirkte sich auch auf die Wirtschaft am Bosporus aus. Zwar fiel das Wachstum für 2016 mit 2,9% besser aus als erwartet, doch wurde zur Berechnung eine neue, bei Ökonomen umstrittene Methode verwendet.
Für 2017 hat die Weltbank ihre Wachstumsprognose für die Türkei schon auf 2,7% gesenkt – im vergangenen Jahr brachen die Direktinvestitionen laut dem Wirtschaftsministerium um 31% ein. Auch der Tourismus leidet unter den politischen Tumulten. Vor allem deutsche Urlauber halten sich mit Reisen in die Türkei zurück, die Einnahmen sollen um fast 30% gefallen sein. Die Eintrübung der Konjunktur lässt auch die AKP-Basis nicht kalt, die zum großen Teil aus Kleinunternehmern besteht. Vor der Abstimmung wurde von der Regierung versichert, dass die Wirtschaft wieder an Fahrt aufnehmen werde. Die Lage wurde damit erklärt, dass viele Investoren den Ausgang des Referendums abwarten würden. Der Londoner Analyst William Jackson von Capital Economics erklärte ebenfalls schon vor dem Referendum, dass viele Unternehmer die Hoffnung haben, dass sich die Regierung nach der Abstimmung verstärkt der Wirtschaft zuwenden wird. „Doch das Hauptproblem bleibt, dass der Reformwille im vergangenen Jahrzehnt deutlich nachgelassen hat.“ Viele Ökonomen befürchten, dass innenpolitische Erwägungen vermehrt die Wirtschaftspolitik bestimmen werden; auch besteht schon länger die Sorge, dass die Regierung Einfluss auf die Zentralbank nimmt.
Ein wichtiger Partner
Für Georg Karabaczek, den heimischen Wirtschaftsdelegierten in der Türkei, sind die Direktinvestitionen Österreichs in der Türkei der springende Punkt. Diese liegen derzeit bei 4,5 Mrd. €. „Das ist mehr als in Frankreich, Italien oder China und zeigt, dass die Türkei für Österreich ein wichtiger Markt ist.“ Die Rahmenbedingungen für Exporte und Investitionen waren für Österreichs Wirtschaft bisher gut, es gibt ein bilaterales Investitionsschutzabkommen und ein Zollabkommen mit der EU. „Das sollte auch so bestehen bleiben“, meint Marcus Scheiblecker, stellvertretender Leiter des Wifo. Sogar nach dem Putschversuch haben heimische Unternehmen in der Türkei investiert. Sie betrachten ihr Engagement nicht kurz-, sondern mittel- bis langfristig.
Von AVL List bis Palfinger
Unternehmen, die in den türkischen Markt eintreten wollen, seien derzeit allerdings zurückhaltend. Die Spannungen zwischen Österreich und der Türkei hätten zwar bei öffentlichen Ausschreibungen und bei einigen privaten Unternehmen zu Stornierungen geführt, einen flächendeckenden Boykott gebe es jedoch nicht. Rund 180 österreichische Unternehmen sind in der Türkei vertreten, darunter AVL List, Greiner Packaging, Mondi, Doka, die OMV und Palfinger. Diese 180 Unternehmen beschäftigen rund 13.000 überwiegend türkische Arbeitnehmer; die Managementpositionen werden meist von Türken bekleidet.
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