"Wenige gute Ehen beruhen auf Stalking"
© Martina Berger
PRIMENEWS Redaktion 24.04.2020

"Wenige gute Ehen beruhen auf Stalking"

Belästigung macht noch keine gute Marke. Sebastian Bayer und Alexander Hofmann von VML&R im Interview.

••• Von Laura Schott

Gut eineinhalb Jahre ist es her, dass sich die Agenturen VML und Young & Rubicam das Ja-Wort gegeben haben. Zeitgemäß firmieren sie seither unter dem Doppelnamen VMLY&R und haben sich, ihren Kunden und auch den Konsumenten unter anderem eines versprochen: zu begeistern und nicht zu belästigen. Warum viele Marken heute genau das Gegenteil tun, wieso das gefährlich ist und was sich schleunigst ändern sollte, erzählen Sebastian Beyer, CEO von VMLY&R, und Alexander Hofmann, Executive Creative Director, im Interview.

medianet: VML und Young & Rubicam haben sich nun vor knapp eineinhalb Jahren zusammengeschlossen. Wie ist diese erste Zeit verlaufen?
Sebastian Bayer: Im Grunde entwickelt sich das alles sehr gut. Wir merken nach wie vor, wie viel Energie von der Neuausrichtung ausgeht, und dass wir damit sehr gut auf die Entwicklungen im Markt reagieren. Die Fusion hat ja vor allem dazu geführt, dass wir die Themen Markenführung und Brand Experience in den Mittelpunkt gestellt haben.

Die Kunden stehen heute vor dem Problem, dass viele Dinge, die sie jahrelang gemacht haben, nicht mehr so funktionieren wie früher – vor allem, weil die Kommunikation immer fragmentierter wird. Unser neuer Ansatz hilft, dieses Problem abzufangen und neue Antworten auf die Fragen der Kunden zu finden. Das schaffen wir, indem wir in einem ersten Schritt die Marke noch einmal straffziehen und vermittelbar machen, wofür die Marke steht. Im zweiten Schritt entwickeln wir die Strategie, indem wir erfassen, auf welche Welt die Marke trifft und wo sie einen sinnvollen Beitrag leistet. Und erst dann suchen wir nach den besten Ideen, um diese Geschichte auf außergewöhnliche Weise zu erzählen.

medianet: Würden Sie – im Nachhinein betrachtet – sagen, dass das genau der richtige Zeitpunkt war, um diese Entwicklung abzufangen, oder hätte das bereits früher Sinn gemacht?
Alexander Hofmann: Ich glaube, dass es sowohl für uns als Agentur als auch für den Markt genau der richtige Zeitpunkt war. Denn die Kunden erleben immer mehr, dass dieses Silodenken und Aufsplitten von Etats mehr Probleme macht als es löst. Es geht nicht um Kanäle. Es geht nur darum, was die Menschen da draußen machen, wie sie ihr Leben leben und wann ein guter Moment ist, um ihnen eine richtig gute Geschichte zu erzählen. Und unser Ansatz bietet ein Framework, um die Menschen wieder zu begeistern und eine Trendwende zu diesem Reklameschrott herbeizuführen, der die letzten Jahre da draußen geherrscht hat. Sei es im digitalen oder im klassischen Bereich – was einem da teilweise entgegenkommt, ist eine Katastrophe. Und wenn das so weitergeht, schafft sich die ganze Branche ab.

medianet:
Das Silodenken ist kleineren, spezialisierten Agenturen in den letzten Jahren zugutegekommen. Aber können viele kleine Agenturen überhaupt einen gemeinsamen, einheitlichen Brand Experience-Ansatz für einen Kunden verfolgen?
Hofmann: Ich glaube, die Kunden haben die Zeit nicht mehr. Die Veränderung unserer Welt kostet die Unternehmen wahnsinnig viel Zeit und Ressourcen, die sie dann nicht mehr dazu verwenden können, unzählige verschiedene Agenturen zu koordinieren. Es wird immer Dinge geben, die Spezialagenturen machen – auch wir holen Spezialisten dazu. Aber wir haben den Vorteil, dass wir diese jederzeit in unserem Netzwerk zur Verfügung haben – und das auf einem internationalem Level.
Bayer: Es übernehmen dabei aber gar nicht so sehr wir als Agentur den Lead, sondern das Brand Experience-Modell. In vielen Ausschreibungen sind heute neue Mitbewerber dabei, die aus der klassischen Beratung kommen. Es wird immer mehr ein Duell der Ansätze, das sich um die Frage dreht, ob der Kunde eher seine Kommunikationsagenden einem Berater anvertraut oder eine Werbeagentur in sein Business eingreifen lässt. Da ist international ein sehr interessantes Rennen losgebrochen, das wir auch in Österreich spüren.

medianet:
Wie nehmen es die Kunden auf, wenn man ihnen erklärt, dass zunächst einmal das eigene Markenverständnis geschärft werden muss, bevor es an die Strategie geht?
Bayer: Verstehen tun das eigentlich alle. Manche fühlen sich noch überfordert von diesem gesamtheitlichen Denken, das dazu notwendig ist. Aber immer mehr sagen: Wir müssen das jetzt machen, das ist eine Riesenchance.
Hofmann: Es ist ja auch nicht so, dass wir bei allen Kunden das gesamte Modell radikal ändern müssen. Es geht darum, Identität innerhalb des Unternehmens zu stiften – sowohl unter den Mitarbeitern, als auch nach außen. Und das versteht jeder Kunde, mit dem wir darüber sprechen, und das will auch jeder machen. In den Journeys, die wir entwickeln, sind Kampagnen dann ja auch mit abbildbar. Wir machen weiterhin Werbung und glauben weiterhin an das, was immer schon für Kommunikation gegolten hat: Dass du herausragende Dinge machen musst, um herauszuragen. Wir finden einfach neuere und außergewöhnlichere Touchpoints, an denen das ganze noch mehr Kraft und Relevanz erzeugen kann.

medianet:
Dennoch löst dieser neue Ansatz irgendwo das klassische Kampagnendenken ab.
Bayer: Die Kampagne tritt ein bisschen in den Hintergrund, und die Marke als das Zentrale gewinnt mehr Raum. Wir sind felsenfest davon überzeugt, dass ein Unternehmen, das erfolgreich sein will, eine starke Marke sein muss. Und sich bewusst sein muss, welche Geschichte es erzählt. Und darauf können Kampagnen dann aufsetzen und einen Hebel bilden, um diese Story zu erzählen.

medianet:
Wie viel Sinn macht es dann noch, dass die großen Werbepreise dieser Welt immer noch vordergründig Kampagnen auszeichnen?
Hofmann: Das tun sie nicht mehr. In Wirklichkeit haben diese Preise mitgeholfen, Dinge wie Brand Experience salonfähig zu machen. Wenn man sich ansieht, wie schlecht das Niveau in den klassischen Kategorien dieser Preise geworden ist, dann spiegelt das schon wider, wo die Energie der Agenturen hinfließt – nämlich in andere Arten von Ideen abseits von Werbung.

medianet:
VMLY&R führt schon seit Jahren die Brand Asset Valuator (BAV)-Studie durch, derzufolge sich letztes Jahr neben den großen Digitalmarken vor allem heimische Marken durchgesetzt haben. Worin liegt die Stärke österreichischer Marken?
Bayer: Zum Teil ist es wahrscheinlich einfach logisch, dass die heimischen Marken den Konsumenten näher sind. Wir sehen auch, dass österreichische Marken in schwierigen Jahren profitieren, weil die Menschen da an Dingen festhalten, die sie kennen. Der BAV ist primär ein Tool, um die eigene Marke verstehen und steuern zu können. Er zeigt sehr schonungslos, dass eine Marke mehr als nur ihre letzte Kampagne ist, und dass eine Vielzahl an Komponenten Einfluss darauf hat, wie stark die Marke ist.

Viele Unternehmen glauben, dass nur das Marketing ihre Marke prägt. Es sind aber auch viele andere Unternehmensbereiche – vom Produkt, über das Service bis zum Umgang mit Reklamationen und vieles mehr. Und diese Bereiche arbeiten wir mit dem Brand Experience-Ansatz heraus. Der BAV zeigt auch, dass die Stärke einer Marke eine Funktion der Stärke ihrer Story ist und nicht der Mediaspendings.

Hofmann: Ich habe schon mit vielen Studien zu tun gehabt, aber der BAV ist das einzige Tool, das dir tatsächlich zeigt, wie gut deine Marke ist, und wie du sie steuern kannst. In England hat eine Umfrage gezeigt, dass heute ein Drittel aller Marketingleiter nicht weiß, wie man eine Marke aufbaut oder steuert – in der Agenturwelt sieht es wahrscheinlich ähnlich aus. Das Langfristige ist komplett aus den Köpfen der Menschen verschwunden, alles dreht sich nur noch in und um kurzfristige Zyklen.

medianet: Der BAV hat auch ergeben, dass es den meisten Marken an Differenzierung mangelt.
Bayer: Was die Ergebnisse hier zeigen, ist wirklich erschreckend. Viele Marken konzentrieren sich nur darauf, laut zu sein und viel Share of Voice zu bekommen, weil es ihnen an einer Geschichte mangelt. Das führt dazu, dass neun von zehn Marken an Differenzierung verloren haben. Eine mangelnde Geschichte kann man nicht mit Mediabudget aufwerten: Von den zehn größten Werbespendern Österreichs macht nur einer in der Differenzierung einen guten Job, und das ist Hofer. Ein gutes Beispiel hierfür ist auch Zotter. Zotter gibt ein minimales Mediabudget aus, hat aber so eine starke Story, die die Marke seit Jahren unter die top zehn Marken in Österreich bringt. Das zeigt: Geld in die Hand zu nehmen, um etwas zu erzählen, hat erst Sinn, wenn man weiß, was man erzählen möchte. Dann hilft es aber natürlich massiv.
Hofmann: Viele Unternehmen bekommen dann von uns die Ergebnisse präsentiert und fragen sich, wie das sein kann. Aber die Kommunikation und die Werbung sind im Moment teilweise wirklich in einem erbärmlichen Zustand. Das kreative Produkt da draußen ist im Schnitt zum Kotzen.

medianet:
Dass ein Umdenken stattfindet, haben Sie ja bereits angesprochen. Was erwarten Sie sich hier von der Zukunft?
Bayer: Ich glaube, dass die nächsten Jahre hier für eine Bereinigung am Markt sorgen werden. Diejenigen, die nicht verstehen, wohin sich das Ganze entwickelt, wird es in ein paar Jahren nicht mehr geben. Ich habe die Hoffnung, dass dann auch wieder mehr Raum für Qualität geschaffen wird.

Einer unserer Vorsätze lautet, zu begeistern und nicht zu belästigen. Das gelingt uns auch nicht immer, denn es gibt immer wieder Kunden, die auf Belästigung briefen. Aber man muss sich doch nur ansehen, was für einen schlechten Leumund die Werbebranche hat, und vor allem, wie man selbst als Rezipient auf Werbung reagiert. Wem macht es denn Spaß, sieben Fenster wegklicken zu müssen, bevor man zu dem Inhalt gelangt, den man eigentlich sehen will? Und auch in anderen Medien: Es ist ein Spießrutenlauf, wie ich am besten um die Werbung herumkomme. Und wir wollen nicht Teil dieser dunklen Macht sein, die Menschen mit Dingen belästigt, die sie nicht interessieren.

Marken, die tolle Geschichten erzählen, interessieren die Menschen auch. Und es ist ja auch viel spannender, mit Kunden an solchen Geschichten zu arbeiten und nicht daran, wie wir eine besonders gute Strategie entwickeln können, dass die Zuseher unserer Botschaft nicht entkommen können. Wer belästigt, ist nie gut beraten – weder im echten Leben, noch in der Werbung.

Hofmann: Das stimmt. Nur wenige gute Ehen beruhen auf Stalking …

medianet:
Haben Sie denn selbst noch eine Lieblingsmarke?
Hofmann: Viele! Alle, die wir betreuen, natürlich. (lacht)
Bayer: Durch meine berufliche Vergangenheit bei Nike habe ich zu dieser Marke schon einen ganz besonderen Bezug. Nike ist eine Marke, die mich jeden Tag aufs Neue überrascht und die ein gutes Beispiel dafür ist, dass man sich immer wieder neu erfinden muss, um vorn mit dabei zu sein. Und natürlich alle unsere Kunden, die ganz tolle Marken sind, weil wir ja auch mit ihnen arbeiten (lacht). Und ein bisschen daran mitschnipseln dürfen, damit sie immer besser werden.

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