••• Von Maren Häußermann
Es war im Jahr 1873, als ein Arzt aus Valencia die Weltausstellung in Wien besuchte. Ein Highlight während der Veranstaltung waren die Semmeln, die überall serviert wurden. Begeistert berichtete er nach seiner Rückkehr einem Freund aus Aragonien davon, Matías Lacasa. Die Konditorei Viena Capellanes in Madrid sollte ihr Vermächtnis werden und das Pan de Viena ein Verkaufsschlager.
So begeistert waren die Madrilenen von der feinen Bäckerei, dass sich Viena Capellanes auch als Hofkonditorei durchsetzte. Ohne Nachkommen ging das Geschäft zunächst an entfernte Verwandte und schließlich an einen Mitarbeiter, Manuel Lence, der daraus wieder einen Familienbetrieb machte. Im Jahr 1929 öffneten die ersten Salones de Té, welche an Wiener Kaffeehäuser erinnern. Nach Bürgerkrieg, Diktatur, Wirtschaftskrisen und den Herausforderungen der Gegenwart ist das Geschäft noch immer in Händen der Familie. Ein Interview mit Antonio Lence, dem aktuellen Geschäftsführer.
medianet: Welche Reaktionen gab es damals auf das Pan de Viena?
Antonio Lence: Man war in Spanien ein anderes, weniger feines Weizenbrot gewohnt. Die Wiener Semmeln mit ihrer knackigen Rinde aus dem Ofen waren da völlig Neues - und fanden sofort großen Anklang.
medianet: Wie hat sich das Produkt über die Jahre entwickelt?
Lence: Es kam zu einer Zeit, als sich die spanische Gesellschaft veränderte und sich eine Mittelschicht entwickelte. Diese suchte nach ausgefeilteren Produkten, als es sie bis dato gab, und so halfen sie mit ihrer Nachfrage dem Unternehmen, sich zu entwickeln und einen Grundstein für die zukünftigen Konditoreiprodukte und Teesalons zu schaffen. Als das Patent nach zehn Jahren auslief, produzierten viele andere Bäckereien das Produkt, das mittlerweile auch als ‚Luxusbrot' bezeichnet wurde. Wie in Frankreich, so sind auch heute noch die meisten Baguettes, die in Spanien verkauft werden, als ‚Viena' gekennzeichnet. Die Semmeln sind heute etwas länglicher und werden in Madrid ‚pistola' genannt.
medianet: Wie haben sich die Produkte von Viena Capellanes über die Jahre verändert?
Lence: Seit dem zwanzigsten Jahrhundert hat sich unsere Palette erweitert. In den 40ern, in der Nachkriegszeit, haben die Lokale damit begonnen, ihr Angebot zu diversifizieren. Neben der Bäckerei und der Konditorei gab es einen Laden mit Überseeprodukten, belegte Brötchen und Sandwiches wurden eingeführt und bis in die 80er beibehalten. Dann eröffneten wir die ersten Cafeterias mit Essen zum Mitnehmen oder vor Ort genießen: Salate, Fertiggerichte, unser Angebot ist bis heute sehr vielfältig und wir sind offen für neue Einflüsse, auch aus dem Ausland. Nebenher sind wir der Konditorei, der Schokolaterie und den Teesalons treu geblieben.
medianet: Was für eine Wirkung hat der Wien-Bezug im Titel?
Lence: Zunächst ging es um die Referenz zum Produkt, für welches das Unternehmen berühmt war, und darum, eine Verbindung zu einer kosmopolitischen Stadt herzustellen, die damals eine der wichtigsten Hauptstädte Europas war, in all ihrer Größe. Natürlich hat der Name der Stadt Wien ein gewisses Prestige auf das Produkt übertragen. In Viena Capellanes bot man Klasse und Exzellenz an.
medianet: Sie haben auf Ihrer Website viele Anekdoten aufgelistet. Gibt es auch eine in Bezug auf Österreich?
Lence: Die sympathischste Erfahrung in Bezug auf Österreich hat mit der Sachertorte zu tun. Dank dem erfolgreichen Rezept hat eine wichtige österreichische Firma unsere Torten als Weihnachtsgeschenke für ihre Kunden ausgewählt, wofür tatsächlich auch einige mit dem Flugzeug nach Österreich geschickt wurden.
medianet: In Wien haben die Kaffeehäuser eine große Relevanz. Wie ist das für Ihr Unternehmen in Spanien?
Lence: Unsere 21 Lokale sind alle sehr unterschiedlich, sowohl in der Größe als auch in den Charakteristiken. Aber in allen legen wir den Wert auf ein angenehmes Ambiente während der Verkostung unserer Produkte, genauso wie in den Wiener Kaffeehäusern. Ganz besonders in unserem historischen Café Viena in der Nähe des Palasts im Zentrum Madrids, welches als Ort der Begegnung und des Rückzugs für angenehme Gespräche zu einem guten Kaffee mit einer Portion Torte einlädt. Die Lokale sind unsere Priorität, aber wir setzen auch viel auf unser Catering, um die Kunden in der Arbeit oder zu Hause zu erreichen. Die Pandemie hat geänderte Verhaltensweisen mit sich gebracht und die erlaubte Besucheranzahl in unseren Restaurants reduziert, sodass viele Leute nun unsere Produkte kaufen und zu Hause verzehren. Deshalb haben wir auch unseren Lieferdienst verstärken müssen.
medianet: Welche Produkte verkaufen sich in diesen Tagen unter dem Einfluss der Pandemie am besten?
Lence: Wir versuchen, weiterhin alles zu verkaufen, aber der Nachfrageeinbruch ist enorm. Vor allem natürlich das Geschäft mit großen Unternehmen, welche unter unseren wichtigsten Kunden waren. Das Homeoffice hat diese Nachfrage wegfallen lassen. In Viena Capellanes haben wir die Arbeit zu keinem Moment eingestellt und stattdessen alles in unserer Kraft Stehende dazu beigetragen, der Gesellschaft zu helfen und mit sozialen Tafeln zusammenzuarbeiten. Wir haben Menüs an mittellose Familien und Schulkinder verteilt und wir hatten unseren Food Truck vor dem Hilfskrankenhaus in der Messe von Madrid stehen. Gleichzeitig haben wir unsere Lokale offengehalten, um den Kunden während des absoluten Lockdowns im Frühjahr zu helfen, als man das Haus nur unter bestimmten Umständen verlassen durfte. Damit hat sich Viena Capellanes den Respekt und das Vertrauen seiner Kunden gefestigt.
medianet: Wie sind Sie der Pandemie als Unternehmen begegnet?
Lence: Wir kämpfen unermüdlich um die Zukunft unserer Mitarbeiter, welche das Herzstück unserer Firma sind. Wir versuchen uns an die Bedürfnisse unserer Kunden anzupassen und uns neu zu erfinden … Natürlich wollen wir in der Zukunft weiter wachsen, aber es wird noch sehr lange dauern, bis wir aus dieser Situation herauskommen, die uns aktuell in Schach hält. Denn trotz des enormen Arbeitsaufwands unserer Leute haben wir einen geschätzten Geschäftseinbruch von 55 Prozent im Jahr 2020 erleben müssen. Diese Wirtschaftskrise ist mit der letzten aus dem Jahr 2008 nicht zu vergleichen. Sie kam plötzlich und hat unsere Aktivität praktisch von einem auf den anderen Tag eingestellt. Die vorherige Krise war ein langer Prozess, in dem man sich auf den Rückgang der Nachfrage und den Umsatzeinbruch einstellen konnte. Das gab uns ein wenig Spielraum, um darauf reagieren zu können. Deshalb waren die Effekte schlussendlich nicht ganz so explosiv und es war einfacher, mit ihnen umzugehen. Die aktuelle Situation bleibt weiter sehr ungewiss, weil es zu viele Elemente gibt, die nicht mit unserer Arbeit und unserem Aufwand zusammenhängen. Es sind externe Faktoren, von denen wir abhängen: Wann können die großen Unternehmen wieder ihre Arbeit auf vor-Covid-Niveau aufnehmen? Das wird vermutlich nicht passieren, ehe die Impfungen weit vorangeschritten sind.
Die Gesellschaft wird sich in vielerlei Hinsicht verändern, denn mit Covid-19 kamen Veränderungen, die bleiben werden. Auch wenn das Homeoffice nach der Pandemie wieder reduziert werden sollte, wird es sicher als Option bleiben.
medianet: Wie lief die solidarische Arbeit während der Pandemie ab?
Lence: Die hat uns vor allem in den ersten Wochen der Pandemie stark eingenommen. Hier in Spanien ist das Leben praktisch stehen geblieben, aber unsere Kapazität war ja noch voll intakt. Also entschieden wir, diese der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Da wir das aber unmöglich eigenständig finanziell stemmen konnten, haben wir eine Bewegung ins Leben gerufen, #diesolidaritätistansteckend, und darauf gab es eine überraschend positive Reaktion von Unternehmen, aber auch Privatmenschen, die ebenfalls helfen wollten, aber nicht wussten, wie. Es war überwältigend. Sie halfen mit Produkten und Geld und so konnten wir die Hilfskette am Leben halten.
medianet: Wie ist heute die Verbindung zu Österreich?
Lence: Heute pflegen wir keinen direkten Kontakt mehr mit Österreich, außer natürlich mit unserer Sachertorte.