••• Von Paul Hafner
Die Rede von der Krise als Chance ist so abgedroschen wie forciert; doch so wie der Lockdown den Handel aus den Angeln hebt und mancher (Online-)Retailer die Ausnahmesituation zu seinen Gunsten zu nutzen weiß und via E-Commerce die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft stellt, so ergeben sich durch die zumindest temporär geänderten Verhältnisse von Angebot und Nachfrage auch neue Möglichkeiten für die verschiedenen Industriezweige.
Antiseptika statt Alkohol
Das mediale Paradebeispiel des industriellen Umsattelns der letzten Wochen – auch medianet berichtete – war jenes der Destillateure, die von Gin, Whiskey und anderen Spirituosen auf die Produktion dringend benötigter Desinfektionsmittel bzw. der Bereitstellung des dafür nötigen Alkohols umdisponierten und Krankenhäuser und Apotheken zu ihren Kunden machten.
Jüngst zu einem großen Geschäft sind Schutzmasken avanciert: Sehr kurzfristig zur Pflicht in Geschäften und nun auch in öffentlichen Verkehrsmitteln erklärt, war die Beschaffungsknappheit rasch Thema der Stunde – mittlerweile sind wiederverwendbare Stoffmasken das Fashion-Accessoire der Stunde, die Textil- und Bekleidungsindustrie stellt ihre Produktion um. Doch nicht nur modebewusste Konsumenten zählen zur Zielgruppe: Hugo Boss etwa lässt derzeit 180.000 Mundschutzmasken aus Baumwolle produzieren.
Der Wiener Modeschöpfer La Hong produziert Designer-Luxusstücke, ein Teil davon ging als Spende ans St. Anna Kinderspital; auch der Gardinengroßhändler Floral Lösieg – dem infolge der Pandemie das Kerngeschäft wegbrach – hat sein Nähstudio umfunktioniert und näht Schutzmasken aus antibakteriellen Stoffen. Auch der Tiroler Gleitschirmhersteller Nova hat auf Gesichtsmasken und Schutzmäntel umgestellt.
Die Stunde der Bierboten
Der Kunstgriff, die Produktion auf stark nachgefragte Artikel umzustellen, ist der Lebensmittelindustrie abseits der Brennereien größteneils verwehrt; ihnen bleibt nur das Ausweichen auf andere Vertriebswege, um Einbußen durch Geschäfts- und Lokalschließungen zu kompensieren.
So hat etwa die Ottakringer Brauerei einen Lieferservice installiert, der bei Bestellung bis 16 Uhr am Folgetag liefert. Als besonderes Special wird auch das sonst der Gastronomie vorbehaltene Zwickl Rot bis vor die Wohnungstüren der Wiener kutschiert.
Auch die Sektkellerei Schlumberger stellt neuerdings zu: Bedachte man zunächst im Rahmen einer kleinen Geste die eigenen Angestellten im Homeoffice mit einem prickelnden Gruß, waren die Rückmeldungen und das Echo so positiv, dass man sich kurzerhand entschloss, diesen Service auch für andere Unternehmen anzubieten, die ihre Mitarbeiter überraschen möchten. Auch Privatkunden können ihre sozial distanzierten Liebsten (via Website) mit einer Flasche Sprudel samt personalisierter Grußkarte beglücken.
Wege zum Kunden
Nicht nur die Getränkebranche setzt auf Hauszustellung: Neben dem Großmarkt Wien liefern auch viele regionale Obst&Gemüse-Bauern vor die Haustür, das Obsthaus Haller etwa bietet kontaktlose „Drive-In”-Abholung; auch die Süßwarenbranche ist sich nicht zu bequem für den Weg zum Kunden; Konditor Gerstner etwa hat kürzlich seinen Online-Shop relauncht.
Man darf gespannt sein, ob die alternativen Vertriebswege, welche die Hersteller gerade in großem Stil entdecken, auch über die Coronakrise hinaus Bestand haben; es ist jedenfalls evident, dass die Lebensmittelindustrie einen deutlichen Ruck ins Digitalzeitalter vollzogen hat.