WIEN. Rund 1,2 Mio. USD gab John Thain, der frühere CEO von Merryll Lynch, für die Renovierung seines Büros aus – mitten in der Wirtschaftskrise. Richard Fuld, damals CEO von Lehman Brothers, verkündete öffentlich: „Ich werde Lehman zu neuen Höchstleistungen führen, sobald diese Krise vorüber ist.” Drei Tage später war die Bank pleite.
Was macht aus aufrechten Managern korrupte Betrüger? Der Leadership-Experte und WU-Professor Günter Stahl und Stephan Doering, Leiter der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der MedUni Wien, haben sich – auch vor dem Hintergrund von Robert D. Hares Forschungen zur Psychopathie („Hare Psychopathy Checklist”) – den schmalen Grat zwischen Narzissmus und Psychopathentum im Top-Management genauer angesehen. Die Ergebnisse haben sie vor Kurzem unter dem Titel „Narcissism and the dark side of leadership” im Rahmen der MBA Alumni Lounge der WU Executive Academy präsentiert. Ein Ergebnis: Der Psychopath in der Chefetage ist die Ausnahme, nicht die Regel.
Die Dosis macht das Gift
Eine gewisse Dosis an Narzissmus sei gesund und für Führungskräfte unabdingbar, sagte Stahl. Allerdings könne sich ein Zuviel an Narzissmus negativ auf das Umfeld auswirken. Schillernde Beispiele wie jenes von Steve Jobs würden die Erwartungshaltung an Leader einseitig beeinflussen: „Wir alle wollen charismatische Leader”, so Stahl, „doch die Kehrseite der Medaille ist: Sie sind oft narzisstisch veranlagt.” Die Kombination von Charisma und Narzissmus sei toxisch: „Solche Manager manipulieren andere und schaden ihnen, um ihre Ziele zu erreichen.”
Gesund versus gestört
Unterscheiden müsse man laut Doering jedoch zwischen selbstverliebtem, aber gesundem Narzissmus, der narzisstischen und der psychopathologischen Persönlichkeitsstörung. Ein Mensch mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung empfindet sich als grandios, hat Fantasien von grenzenlosem Erfolg und kaum Empathie, reagiert mit depressiven Schüben auf Kritik, braucht exzessive Bewunderung und manipuliert andere zum eigenen Vorteil. Eine antisoziale Persönlichkeit hat Spaß am Lügen und Betrügen, ist aggressiv, impulsiv. Der Psychopath als Extremform dessen ist ein maligner – bösartiger – Narzisst. Er treibt ein rücksichtsloses, verantwortungsloses, oft auch illegales Spiel, um sich Vorteile zu verschaffen.
Entwarnung
Im aktuellen Forschungsprojekt „Responsibility & Leadership” von Günter Stahl an der WU Wien wurde eine in der Forschung etablierte Theorie, dass es sich bei korrupten Managern meist um Psychopathen handelt, nicht bestätigt. Unter anderem wurden Unternehmensskandale der vergangenen Jahre analysiert und sechs ausgewählte Top-Manager, die wegen Korruption und Betrug verurteilt worden waren, auf Basis biografischer Materialien untersucht, darunter etwa Ex-Lehman-CEO Fuld und der frühere Bertelsmann- und Arcandor-Manager Thomas Middelhoff. Keiner der sechs verurteilten Manager erfüllte die Kriterien eines Psychopathen, aber: Sie waren alle hochgradig narzisstisch veranlagt.
Wasser predigen …
Stahl identifizierte nicht nur narzisstische Topmanager als Treiber von Korruptionsskandalen, sondern auch ein Unternehmensklima, das dieses Verhalten ermögliche und fördere. „Oft fehlen in Unternehmen ethische Werte oder sie werden zwar propagiert, aber nicht gelebt”, so Stahl. Der VW-Konzern etwa hatte sich soziale Verantwortung, Nachhaltigkeit und Partnerschaft auf die Fahnen geheftet, die so gar nicht zum darauffolgenden Diesel-Betrugsskandal passten. „Wenn Top-Manager nicht praktizieren, was sie predigen, erzeugt das zynische Mitarbeiter und ein vergiftetes Klima”, so Stahl. (sb)