Ende September verlängerte Wien die Ausbildungsschiene Jugendcollege, ein gemeinsam mit dem Arbeitsmarktservice initiiertes Projekt für junge Menschen mit Fluchtgeschichte. Das Jugendcollege hat schulähnlichen Charakter – mit 32 Wochenstunden – und ermöglicht eine systematische Vorbereitung auf Ausbildung und Arbeitsmarkt. Ziel ist nach maximal einem Jahr der Pflichtschulabschluss bzw. die direkte Vermittlung in eine Lehrstelle oder in einen Betrieb.
Kritik vs. Daten und Fakten
Im ersten Förderjahr wurden mehr als 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer verzeichnet. Die Erfolgsquoten sind deutlich höher als bei anderen Maßnahmen für die entsprechende Altersgruppe. Bisher haben 90% der für einen Pflichtschulabschluss angemeldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Prüfungen bestanden. „Hacker (Anm. Wiens Sozialstadtrat Peter Hacker, SPÖ) wirft weitere 40 Millionen Euro beim Jugendcollege zum Fenster hinaus“, wetterte dennoch die Freiheitliche Rathausopposition.
Das BFI Wien betreut, gemeinsam mit ibis acam, einen von zehn Jugendcollege-Standorten in Wien – mit 1.080 Teilnehmerinnen und Teilnehmer pro Jahr. medianet bat Franz-Josef Lackinger, Geschäftsführer des BFI Wien, in diesem Kontext zum Gespräch.
medianet: Vor knapp einem Jahr haben Sie an dieser Stelle den Start des Jugendcolleges angekündigt. Vor wenigen Wochen wurde es offiziell für ein weiteres Jahr verlängert. Was ist Ihre bisherige Bilanz?
Franz-Josef Lackinger: Ich bin ehrlich gesagt beeindruckt, was unser Team in der Praterstraße in so kurzer Zeit auf die Beine gestellt hat. Wir sprechen hier von einem Projekt, das im März 2024 beauftragt wurde – ohne gesicherte Auskunft über die Laufzeit, ohne Mietverträge, ohne Personal. Und sechs Monate später startete ein funktionierendes Schulungszentrum für über 700 Jugendliche.
Möglich wurde das nur durch den außergewöhnlichen Einsatz vieler Kolleginnen und Kollegen – von den Trainerinnen und Trainern über IT und Facility Management bis hin zur HR. Natürlich läuft bei einem so komplexen Projekt nicht alles vom ersten Tag an perfekt. Aber eine Erfolgsquote von über 90 Prozent bei jenen, die zur Prüfung angetreten sind, spricht für sich. Das zeigt, was in der beruflichen Bildung möglich ist.
medianet: Was entgegnen Sie jenen, die zu hohe Kosten bei zu niedrigem Output kritisieren?
Lackinger: Die Frage nach den Kosten ist legitim – aber die Alternative, nichts zu tun, wäre langfristig teurer. Es geht hier nicht nur um Bildung, sondern um gesellschaftlichen Zusammenhalt und ökonomische Perspektiven. Wer heute in Sprachförderung und Qualifizierung investiert, spart morgen bei Arbeitslosigkeit, Sozialleistungen und Integrationskosten.
Wenn wir wissen, dass fehlende Deutschkenntnisse oft mit einem geringeren Verständnis für Rechtsstaat, Gleichberechtigung und Pluralismus einhergehen, dann ist jeder Euro in Programme wie das Jugendcollege gut angelegt. Und jeder erfolgreiche Abschluss heißt: eine Person mehr, die ihren Platz im Arbeitsmarkt findet. Oder, um AMS-Chef Kopf zu zitieren: ‚Wir müssen die Potenziale jener Ausländer nützen, die wir nicht gerufen haben, die aber da sind.‘ Genau das gelingt uns mit Programmen wie dem Jugendcollege.
medianet: Sie sagen, es funktioniert noch nicht alles perfekt. Wo hakt es noch?
Lackinger: Derzeit liegt die größte Herausforderung bei den Prüfungsplätzen. Wer im Jugendcollege den Pflichtschulabschluss anstrebt, muss eine sogenannte Externistenprüfung ablegen – sechs Teilprüfungen, die von Mittelschulen abgenommen werden. Das System funktioniert grundsätzlich, aber es hängt vom Engagement einzelner Schulen und Lehrkräfte ab. Sie machen das freiwillig und zusätzlich zu ihrer regulären Arbeit – das verdient großen Respekt, zeigt aber auch die Grenzen des Modells. Derzeit stehen uns monatlich rund 40 Prüfungsslots zur Verfügung. Wenn man bedenkt, dass uns netto nur sechs bis sieben Monate im Jahr für Prüfungen bleiben, ist klar: Wir könnten deutlich mehr Jugendliche zum Abschluss führen, wenn mehr Plätze vorhanden wären. Jeder Pflichtschul- oder Lehrabschluss zählt – und angesichts der demografischen Entwicklung können wir es uns schlicht nicht leisten, diese Potenziale ungenutzt zu lassen.
medianet: Abschlüsse sind das eine. Aber fast täglich gibt es Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt und Berichte über Kündigungen bei großen heimischen Betrieben. Haben wir überhaupt genug Arbeitsplätze für die Absolventen der diversen Ausbildungen?
Lackinger: Auch wenn das dritte Rezessionsjahr und die täglichen Meldungen von Personalabbau vielleicht den Eindruck erwecken, dass es keinen Bedarf an Arbeitskräften gibt: Der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften bleibt enorm. Der Generationenwechsel schreitet voran, und gleichzeitig verändert die technologische Entwicklung unseren Arbeitsmarkt grundlegend. Digitalisierung, Automatisierung und KI halten in immer mehr Betrieben Einzug – von der Produktion über den Handel bis in die Verwaltung. Damit entstehen neue Tätigkeiten, für die andere Kompetenzen gefragt sind: Datenverständnis, technisches Denken, Umgang mit digitalen Tools. Viele Arbeitskräfte sind dafür noch nicht ausreichend vorbereitet.
Genau hier setzen Weiterbildung und Qualifizierung an. Das heißt: Weiterbildung ist keine Kür mehr, sondern eine Notwendigkeit. Wer heute in neue Kompetenzen investiert, hat morgen die Nase vorn – egal ob als Unternehmen oder als Arbeitnehmer. Wir sehen jeden Tag, dass diejenigen, die sich weiterbilden, am Arbeitsmarkt deutlich bessere Chancen haben.
medianet: Abgesehen vom KI-Kurs, den vermutlich jeder brauchen kann: Wo lohnt es sich bildungstechnisch aktuell einzusteigen?
Lackinger: Natürlich bieten sich jene Branchen besonders an, die gerade im Aufschwung sind – etwa Pharma, Biotechnologie oder Gesundheits- und Pflegeberufe. Auch Logistik, Mobilität und damit verbundene technische Felder wie Kälte-, Mechatronik- oder Elektrotechnik gewinnen weiter an Bedeutung. Eine Ausbildung in diesen Bereichen zahlt sich also definitiv aus. Aber Weiterbildung lohnt sich in allen Branchen. Wer fachlich am Ball bleibt, hat langfristig die besseren Chancen. Wir sehen, dass gerade kompakte, praxisnahe Formate gefragt sind: halbtägige Seminare, Online-Module oder kurze Zertifikatslehrgänge, mit denen man gezielt aktuelles Wissen auffrischen kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Buchhaltung mag sich in ihren Grundzügen nicht maßgeblich verändern. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, Vorschriften, etc. ändern sich aber laufend. So gesehen ist dann nicht jährlich die umfassende Grundschulung notwendig. Vielmehr geht es um ‚Wissenshäppchen‘, die in einem halbtägigen Seminar oder einer berufsbegleitenden Onlineschulung vermittelt werden. Unser Ziel ist es, Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Wir werden nicht in jedem Zukunftsfeld die Nummer eins sein, aber wir sorgen dafür, dass jede und jeder Zugang zu hochwertiger, aktueller Weiterbildung hat. Und das ist letztlich die Basis für einen funktionierenden Arbeitsmarkt. (sb)
