Die verbale Totalentgleisung
MARKETING & MEDIA Redaktion 15.09.2023

Die verbale Totalentgleisung

Mit Kritik „von denen in Brüssel” konnte Österreich noch nie so richtig gut umgehen.

Leitartikel ••• Von Sabine Bretschneider

 

VERGRIFFEN. „Blutgeld”. Das ging nun gar nicht. Hatte sich der in Wien stationierte EU-Kommissionsvertreter Martin Selmayr schon mit seinen wiederholten kritischen Kommentaren zu den Bargeldschwüren des österreichischen Bundeskanzlers unbeliebt gemacht, setzte er dem Ganzen kürzlich noch die Krone auf: 55 Prozent des österreichischen Gases kämen aus Russland, sagte der EU-Vertreter bei einer Kunstmesse in Wien. Österreich finanziere Putins Krieg, und niemand sei auf der Wiener Ringstraße, um dagegen zu protestieren: „Das verwundert mich, denn Blutgeld wird jeden Tag mit der Gasrechnung nach Russland geschickt.” Da war Schluss mit lustig.

Zwar ist an den Fakten nicht zu rütteln, und 55 Prozent sind eher tief gegriffen, und nein, Proteste hagelt es bei uns nicht, solange die Gasspeicher gut gefüllt sind. Auf die Straßen treibt die Menschen, wie wir erfahren durften und wie auch Herr Selmayr wissen sollte, ausschließlich eine staatlich empfohlene Infektionsprophylaxe. Aber „Blutgeld” – das ist eine Zumutung. In einem Land, in dem rund 30 Prozent sich einen „Volkskanzler” wünschen, sollte man seine Wortwahl ein bissl an die ortsübliche Sensibilität anpassen.
Selmayr will seinen Job in Österreich übrigens nicht aufgeben, „bis zur Pensionierung”, erklärte er. Dem könnte entgegenstehen, dass die EU-Kommission sich in einem ungewöhnlichen Schritt öffentlich von ihrem Repräsentanten in Wien und dessen „bedauerlichen und unangemessenen Aussagen” distanziert hatte. Eine „verbale Totalentgleisung”, stimmte dem FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz zu. Dieser Harmonie musste Kollege und EU-Delegationsleiter Harald Vilimsky sofort entgegenwirken: Anlässlich der „State of the Union”-Rede der Kommissionspräsidentin referierte er zu „Massenzuwanderung, Ukrainekrieg, Energie­krise, Schulden, Inflation und Corona-Wahnsinn” und den „Freunden von Viktor ­Orbán, über Marine Le Pen bis hin zu Alice Weidel von der AfD”. Ordnung wiederhergestellt.

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