Automessen sind Theater. Während im Publikum erwartungsfroh Zuschauer um die besten Plätze für ihre Kameras, Smartphones und iPads raufen, spielen auf der Bühne figurbetonte Nebendarstellerinnen dem glänzenden Star in ihrer Mitte zu, und die Kulisse transferiert die Bühne in ein namenloses, automobiles Wunderland. Szenenapplaus gibt es etwa, wenn der Vorhang über einem neuen Modell gelüftet wird, wenn die durchgestylte Präsentatorin aus dem Leistungskatalog der Triebwerke vorliest oder wenn ein zigfacher Weltmeister aus einer Motorsportserie, deren Namen man eben zum ersten Mal gehört hat, den Motor aufheulen lässt. Das mag stellenweise verrückt klingen, ist aber nicht nur aktuell bei der 66. Auflage der Internationalen Automobil Ausstellung (IAA) in Frankfurt gelebte Realität und das ungeachtet davon, dass die präsentierten Neuheiten zu dem Zeitpunkt jedem Automobil-Enthusiasten längst bekannt sind. Die Sensationen wurden schließlich schon Tage, Wochen oder sogar Monate im Voraus präsentiert, auf die 15 Sekunden im Scheinwerferlicht der Messe-Berichterstattung will sich heute kein Hersteller mehr verlassen. Deshalb verzichtet so mancher wie der schwedische Autobauer Volvo gleich gänzlich auf einen IAA-Auftritt, und bei den anderen wird das Drumherum der Präsentation immer wichtiger.
VW: IAA-App gibt Überblick
Bestes Beispiel dafür: Lokalmatador Volkswagen, der auf der IAA mit seinem Mehrmarkenkonglomerat ein gigantisches Neuheitefeuerwerk abfeuert. Mit Pomp und Gloria werden da die zweite Generation des VW Tiguan, der Caddy Alltrack oder der neue VW T6 zelebriert, ebenso stolz ist der deutsche Massenhersteller aber auf die eigens für die Leistungsschau komponierte VW-IAA-App. Dank Beacon-Technologie soll die App an ausgewählten Highlights per Push-Nachricht tiefergehende Informationen anbieten; zudem führt die Applikation nach Wunsch auf fünf thematisch vorbereiteten Routen über den Messestand. Sie informiert die Nutzer je nach Interessengebiet zum Beispiel über „Innovation & Connectivity”, „Electric & Efficient” oder „Interactive & Virtual”. „Wir führen den klassischen Messebesucher damit in das digitale Zeitalter und beziehen den Besucher ganz nach seinen Wünschen individuell mit ein”, ist Anders Sundt Jensen, Leiter Marketing Kommunikation Volkswagen Pkw, vom App-Ansatz überzeugt.
Im Fahrwasser der Kernmarke lassen sich auch die VW-Töchter nicht lumpen: Audi hat etwa die neue Generation des A4 angekündigt, zu sehen gibt es am Stand der Ingolstädter aber auch den SQ5 Plus, den S8 Plus, den Q6 und den R8. Skoda rückt den neuen Superb Combi und den Rapid Spaceback ScoutLine ins Rampenlicht, bei Seat gibt es den Ibiza Cupra zu sehen, und bei Porsche erstmals das Facelift des neuen 911, mit dem der Sportwagenbauer Saugmotoren nun endgültig adé sagt, die Antriebszukunft bei den Stuttgartern gehört damit nur noch aufgeladenen Triebwerken.
Womit wir wieder zum Drumherum kommen, das langsam aber sicher die auf der Bühne glänzenden Boliden überstrahlt: Das ist weniger bei den VW-Ablegern Bentley Bentayga (extrem luxuriös und mit 608 PS nicht gerade untermotorisiert) und Lamborghini Haracan LP 610-4 der Fall, umso mehr aber beim Bugatti Gran Turismo Vision (und übrigens auch beim ebenfalls in Frankfurt zu sehenden Hyundai N 2025 Vision Gran Turismo Concept). Damit reiht sich die VW-Tochter nämlich unter jene Hersteller ein, die ein Fantasiefahrzeug für die digitale Welt des Computerspiels „Gran Turismo” entworfen haben und über diese Schiene versuchen, junges Publikum anzusprechen und die Marke emotional aufzuladen – der Messeauftritt ist in dieser Strategie lediglich ein kleines Mosaiksteinchen.
Mercedes setzt auf Concept IAA
Auch die anderen Hersteller sind sich natürlich dieser Trendumkehr bewusst, zurückstecken möchte vor Ort (vorerst?) trotzdem kaum einer. Mercedes bringt daher die Cabrio-Version der S-Klasse an den Main, aber auch das Facelift der A-Klasse, das neue C-Klasse Coupé und das neue C-Klasse Cabrio. Große Worte verloren die Stuttgarter um ihr Concept IAA, das nichts weniger als einen „Blick in die Zukunft des Automobils” möglich machen soll. Die Studie sei ein „greifbares Beispiel für die faszinierenden Möglichkeiten der digitalen Produktentwicklung, die beispielgebend für die fundamentalen technologischen Veränderungen ist, die in der Automobilindustrie stattfinden”. BMW gibt sich ein Stückchen weiter etwas bescheidener und zeigt seinen neuen 7er und ein Facelift des X1. Die deutsche Konkurrenz von Opel konzentriert sich in ihrem Messeauftritt auf den Astra Sports Tourer, zeigt aber mit dem Surf Concept auch ein Sondermodell des Vivaro. Maserati gleicht mit dem Modelljahr 2016 seine aktuelle Motorenpalette an die Euro-6-Abgasnorm an und führt neue Ausstattungsdetails für die beiden Sportlimousinen Ghibli und Quattroporte ein. Im Mittelpunkt steht dabei ein Interieurpaket von Ermenegildo Zegna. Zu diesen fügen sich auch neue Zierblenden sowie neue Ziernähte an den Kopfstützen. Auch Fahrassistenz und Sicherheit wurden mit den Systemen Totwinkelassistent (einschließlich Querverkehr-Überwachung) erweitert, der Nutzungskomfort mit der elektrischen, sensorgesteuerten Kofferraumbetätigung.
Auch andere Messen im Fokus
Renault gibt mit dem Alaskan Concept einen Vorgeschmack auf seinen für 2017 angekündigten Pick-up und präsentiert den neuen Mégane, Dacia legt mit der „Édition 2016” eine Sonderedition des Duster auf, Rolls-Royce zeigt mit dem Dawn die offene Variante des Wraith, Kia den neuen Sportage, und Ford hat die Europaversion seines SUV-Modell Edge im Gepäck. Und die Asiaten? Sind natürlich auch mit von der Partie: Toyota zeigt etwa den neuen Prius, Nissan hat die neue Generation des Pick-ups NP300 Navara im Messe-Portfolio, und Honda mit dem Civic Tourer Active Life Concept einerseits einen neuen Kombi und mit dem Project 2&4 andererseits eine innovative Mischung aus Auto und Motorrad. Zu sehen sein wird der Ein-Mann-Bolide aber wohl nicht nur in Frankfurt.
Denn auch das gehört zur neuen Strategie der Hersteller, dass sie das Drumherum zunehmend auch bei Auto-fernen Messen wie etwa der Elektronikmesse CES in Las Vegas oder auf Möbelmessen und Fashion Shows präsentieren. Dem Andrang auf der IAA tut das aktuell noch keinen Abbruch, langfristig könnte es aber auch bei den Messebesuchern zu einer Bedeutungsverschiebung kommen.