••• Gastkommentar von Dushan Wegner
KÖLN. Wer die Emotionslage der Deutschen in der sogenannten Flüchtlingskrise verstehen will, muss die „Talkingpoints”* betrachten, mit denen Merkel die Leitplanken der öffentlichen Debatte vorgibt. Stellen wir uns mal vor, Angela Merkel würde verkünden: „Die eine Million Asylbewerber werden in Deutschland bleiben – und ihre Familien werden nachziehen. Deutschland könnte um fünf Prozent pro Jahr wachsen. Viele gehen in die Sozialsysteme. Wohnungsmarkt, Schulen und medizinische Versorgung geraten weiter unter Druck. Ich finde das auch nicht toll, aber ich habe keine Ahnung, was wir machen sollen. Wir wurschteln uns eben durch.”
Eine PR-Katastrophe! Man würde ihr Rechtspopulismus vorwerfen, man würde lachen. Doch sie sagt so etwas nicht. Merkel sagt, was sie sagen muss, um ihre Macht zu stabilisieren.
„Wir schaffen das!”
Im September 2015 wurde Merkel vor allem mit diesen zwei Aussagen zitiert: „Wir schaffen das” (eine „Applauszeile”) und „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land” (eine Reductio ad Emotum; das absichtliche Reden über die eigenen Gefühle).
Die Applauszeile soll das Publikum zum Applaudieren bewegen. Merkel geht voran. „Wir schaffen das!” ist ein Kampfschrei. Jede Applauszeile ruft: „Ich stürme voran, folgt mir!”, und der Applaus ist das codierte Einverständnis: „Ja, wir folgen!”
Inhaltlich ist „wir schaffen das” jedoch nur halb ehrlich. Es impliziert ein Ziel und einen Lösungsweg, beide aber fehlen hier. „Wir schaffen das” ging dann auch nach hinten los. Es wurde als Einladung an alle Flüchtlinge weltweit verstanden. Im Handeln ruderte Merkel etwas zurück und führte zaghafte Grenzkontrollen ein. Rhetorisch legte sie aber nach und griff auf ihren Lieblingseffekt zurück, die Reductio ad Emotum.
„Ich muss ganz ehrlich sagen…” – eine Beziehung zwischen ihr und dem Zuhörer. „Ich … ganz ehrlich” öffnet die emotionalen Zugangswege. „… entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen” wiederum ist ein „Strohmann”.
Niemand hat ihr vorgeworfen, ein zu freundliches Gesicht gezeigt zu haben. Das Problem war die Universaleinladung, was sie ignoriert und umdeutet.
Profi oder nur Enthusiast?
Merkel reduziert also eine logistische und finanzielle Problematik auf ein Gefühl, und wie kann man jemandem vorwerfen, ein zu freundliches Gefühl zu haben?
Der Angriff: „... dann ist das nicht mein Land.” Es grenzt an emotionale Erpressung. Merkel zieht einen „moralischen Kreis”, und der Einzelne muss entscheiden, ob er drin bleibt oder ins einsame Niemandsland abzieht. Es funktioniert. Medien und viele Bürger wollen „drin sein”, wollen das „richtige” Gefühl.
In der Krise zeigt sich, wer Profi ist und wer nur Enthusiast. Wer seine Talkingpoints nicht beherrscht, wird rhetorisch irrlichtern wie derzeit der deutsche Vizekanzler (Sigmar Gabriel, Anm.). Gerade wenn man sich sichtbar durchwurschtelt, müssen die Talkingpoints das Publikum zur Gefolgschaft zwingen - und sei es, weil die Leute Angst haben, das „falsche Gefühl” zu entwickeln.
* Formulierungstricks, mit denen Politiker die öffentliche Meinung steuern.