Leitartikel ••• Von Sabine Bretschneider
ES DÄMMERT. Die Oxford Dictionaries haben das Wort „post-truth” (postfaktisch) zum internationalen Wort des Jahres 2016 gewählt. Postfaktisch. Nullwachstum. Humanressourcen. Selbst für Freunde des Bullshit-Bingo sind manche Wortkreationen nur mühsam hervorzuwürgen. In diesem konkreten Fall ist es besonders bedrückend, weil es in Wahrheit ja nicht um „post-truth” geht, sondern um alles andere als die Wahrheit. Das Adjektiv beschreibe „Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen” beeinflusst werde, heißt es bei den Wörterbüchlern. Wenn der ungesunde Menschenverstand sich mit dem Bauchgefühl paart – und die ganze Chose von den Spindoktoren in politische Zusammenhänge geknüpft und über soziale Kanäle in die Welt geschickt wird, dann hat wahrlich die „Faktendämmerung” (© Frankfurter Allgemeine) eingesetzt.
Der Klimawandel, so die postfaktischen Skeptiker, ist eine natürliche Phase der Erderwärmung zwischen zwei Eiszeiten, unser Planet, so die postfaktischen Kreationisten, ist – nachzuschlagen im biblischen Schöpfungsbericht – 6.000 Jahre alt, Frauen, so die postfaktischen Werber, leiden entweder an galoppierender Blasenschwäche oder überbordenden nächtlichen Menstruationsblutungen. Jetzt jedenfalls ist, darüber herrscht Einigkeit, das Zeitalter der postfaktischen Politiker angebrochen. Wiewohl dieser Trend so neu nicht ist. „Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen”, schrieb einstmals Hannah Arendt. Ihr Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” aus dem Jahr 1955 liest sich passagenweise wie eine Analyse modernen radikal-populistischen Wahlkampfs.
„Postfaktisch” ist so gesehen also ein Euphemismus, den wir uns sparen könnten; selbst „verlogen” ist noch zu freundlich.