Craft-Beer und Beef-Kultur
© APA/AFP/Getty Images/Drew Angerer
RETAIL sabine bretschneider 21.09.2018

Craft-Beer und Beef-Kultur

Welche Treiber sorgen für Innovationen? Was kommt auf uns zu – und wie ­verwertet die Industrie die Chancen, die sich in „Megatrends” verbergen?

••• Von Sabine Bretschneider

Megatrends sind die größten Treiber des Wandels. Sie entfalten ihre Dynamik über Jahrzehnte, können aber auch die Grundlage für vergleichsweise schnelle Durchbrüche auf den Märkten und für Disruptionen sein. Nicht selten zwingen sie ganze Branchen dazu, ihre Strukturen und Geschäftsmodelle neu auszurichten”, beschreibt das Frankfurter Zukunftsinstitut in seiner neuen „Megatrend-Dokumentation” das Wesen dieses Phänomens. Konsumtrends – wie etwa Lebensmittellieferdienste, E-Bikes oder Bio-Supermärkte – seien im Gegensatz dazu verbraucher- bzw. marktbezogene (und medial verstärkte) Entwicklungen von nur rund fünf Jahren Dauer. Allerdings sind Konsumtrends vielfach stark von den dahinterstehenden Megatrends getrieben. So sei der Zero-Waste-Trend letztlich nur ein kleiner Teil des Megatrends Neo-Ökologie.

Am Beispiel „Slow-Bier”

Deutlich zeigt sich dies beispielsweise am Craft-Beer-Trend. Die Braubranche hat innerhalb weniger Jahre einen überraschenden Wandel erlebt. Entgegen der allgemeinen Marktentwicklung eines rückläufigen Absatzvolumens erlangt Bier als Genussmittel in einer neuen Form ungeahnte Popularität. Neben den bekannten handelsüblichen Sorten und etablierten Marken kommen immer mehr sogenannte Craft-Biere auf den Markt.

Nach alten Rezepturen und mit innovativen Verfahren wie der Reifung im edlen Holzfass, Flaschengärung oder Kalthopfung werden sie handwerklich hergestellt und immer beliebter – nicht nur unter passionierten Biertrinkern. Qualität, Vielfalt und einzigartiger Geschmack sind die Prämissen, die Craft-Biere von „konventionellen” so sehr unterscheiden, dass sie vom alltäglichen Genussmittel zum Deli-Drink werden; als Teil der Slow-Food-Bewegung haben sie ein neues Biersegment entstehen lässt. Nachdem zunächst vor allem in den USA und den skandinavischen Ländern eine Vielzahl an Mikro­brauereien mit geschmacksintensiven, kunstfertig gebrauten Sorten eine lukrative Slow-Beer-Nische besetzten, erkennen inzwischen selbst die Konzerne das Potenzial, kreieren neue Marken und erreichen zugleich eine breitere Zielgruppe.
Ganz offensichtlich führt der Wertewandel dazu, dass ein steigendes Qualitätsbewusstsein selbst den Alkoholkonsum beeinflusst. Produzenten, Händler, aber auch Gastronomen profitieren vom Craft-Beer-Trend in Form einer neuen Produktvielfalt, durch hohe Authentizität und mehr Individualität als Gegenpol zum Massenmarkt.

Gutes Fleisch, böses Fleisch

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei einem anderen Food-Trend beobachten. „Weniger Fleisch, mehr Lebensqualität”, lautet die Devise von immer mehr Teilzeit-Vegetariern. Menschen, die nur selten, nur ausgewähltes oder in sehr reduziertem Maße Fleisch essen, sind zur neuen, lukrativen Food-Zielgruppe geworden.

Häufigerer Fleischverzicht ist kein moralisches Dogma mehr, sondern eine situative, pragmatische Entscheidung für mehr Gesundheit, Nachhaltigkeit und Lebensqualität. Diese Haltung kommt in der Mitte der Gesellschaft an und ist Ausdruck einer bewussteren Lebensweise. Flexitarismus prägt die Esskultur und wird so zum Innovationsfeld für Lebens- und Genussmittel.
Einerseits entsteht so eine neue Vielfalt fleischloser Produkte und solcher, die ganz ohne tierische Zutaten auskommen. Andererseits erleben wir zugleich eine neue Wertschätzung tierischer Produkte. Sie findet beispielsweise ihren Ausdruck in der steigenden Auflagenzahl teurer Hochglanzmagazine wie Beef!.

Health meets New Ecology

Die Megatrends Gesundheit und Neo-Ökologie sind die treibenden Kräfte hinter dem neuen Ernährungsstil. Fleisch wird also nicht völlig von den Tellern verschwinden – aber die Industrie sollte sich, so die Autoren der Dokumentation, auf die neuen Bedürfnisse der Kunden einstellen und gezielt auf ihre Genussansprüche eingehen. Denn dass in Zukunft immer mehr Menschen ihren Fleischkonsum reduzieren, ist vor allem eine enorme Chance – für den Erfolg von Produktinnovationen ebenso wie für Qualitätsoffensiven der Industrie.

Der Trend sorgt daher auch für eine Abrüstung im ideologischen Kampf um „richtiges” Essen, der lange Zeit zwischen Vegetariern und Fleischliebhabern geführt wurde.
Da Flexitarier weniger auf Moral und mehr auf Pragmatismus setzen, wächst das Qualitätsbewusstsein der Konsumenten auch beim Fleischverzehr. Herkunft, Rasse, Haltung, Fütterung und Reifung – für fleischverarbeitende Unternehmen und ihre Zulieferer lohnt es sich daher künftig, statt auf günstige Preise vor allem auf die Qualität zu setzen.
Was auf den ersten Blick paradox wirkt und scheinbar widersprüchliche Strömungen kennzeichnet, sind tatsächlich lediglich zwei Seiten einer Medaille.

BEWERTEN SIE DIESEN ARTIKEL

TEILEN SIE DIESEN ARTIKEL