Temu, Shein und Co. importieren tonnenweise Billigstware in mangelhafter Qualität, die oft nicht den EU-Normen entspricht – auch nach Österreich. Das führt in erster Linie dazu, dass etliche Milliarden, die hierzulande ausgegeben werden könnten, nach Fernost wandern. Doch das ist nur eine Auswirkung der aggressiv werbenden chinesischen Plattformen. Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will und Greenpeace-Wirtschaftsexpertin und Sprecherin Ursula Bittner erklären im Doppelinterview, welche Auswirkungen die Shopping-Apps noch haben – und was die EU bzw. Österreich dagegen tun können und sollten.
medianet: Temu und Shein überfluten den heimischen Markt mit billiger Ware, so weit, so bekannt. Welche Auswirkungen werden übersehen?
Rainer Will: Eingangs ist es wichtig festzuhalten, dass der heimische Handel jährlich rund 4,5 Milliarden Euro an diese Plattformen verliert und somit auch Steueraufkommen. Oft wird übersehen, dass die Gemeinden von der Kommunalsteuer leben. Diese bemisst sich an der Bruttolohnsumme aller Angestellten. Wenn Händler in Ortskernen wegen der Importe zusperren müssen, führt das zu weniger Personal, mehr Leerstand, höheren Budgetdefiziten und erschwert Investitionen in die Belebung und Begrünung der Innenstädte. Durch aggressive Werbung und den mangelnden EU-Rechtsvollzug haben Fernost-Plattformen einen unfairen Vorsprung.
Ursula Bittner: Aus Umweltsicht ist es ein grundsätzliches Problem, dass der Konsum außer Kontrolle geraten ist. Ein Fast-Fashion-Beispiel: Shein stellt täglich bis zu 9.000 neue Kleidungsstücke online, Zara produziert im ganzen Jahr etwa 10.000. Die schnelllebige Produktion führt zu einer Wegwerfgesellschaft. Dauernde Rabatte fördern Impulskäufe, Werbung ist allgegenwärtig. Ein großes Problem ist – neben den Auswirkungen auf Klima, Umwelt und Transport –, dass sich viele Hersteller aus Fernost an keinerlei Vorgaben halten. Laut Greenpeace enthielten 15% der bei Temu gekauften Produkte gefährliche Chemikalien – riskant für alle entlang der Lieferkette und bei der Entsorgung. In Österreich landen jährlich rund 1,3 Millionen retournierte Pakete direkt im Müll.
medianet: Wie viel schädlicher – aus Ihrer jeweiligen Perspektive – ist ein Produkt aus Fernost im Vergleich zu österreichischen Waren?
Bittner: Grundsätzlich muss man festhalten, dass vieles, was in Österreich verkauft wird, in China produziert wird. Allerdings unterliegt der heimische Handel europäischen Standards, an die sich Temu und Shein oft nicht halten. Die Rückverfolgbarkeit ist schwierig, weil viele Produzenten in Drittstaaten nicht greifbar sind. Im letzten Jahr wurden rund 4,6 Milliarden Pakete in Kleinstsendungen nach Österreich geschickt. 91 Prozent davon aus China, zwei Drittel davon falsch deklariert.
Will: In Österreich auf konkurrenzfähigem Niveau zu produzieren ist zunehmend illusorisch: Seit März 2020 sind die Personalkosten bei uns im Vergleich zu Deutschland um das Doppelte gestiegen. Die Inflation ist hierzulande mit 3,3% im Juni noch immer viel zu hoch. Wenn wir das nicht rasch in den Griff bekommen, bringen uns die Indexierungen bei Mieten und Gehältern in eine massive volkswirtschaftliche Bedrängnis.
Davon abgesehen entsprechen aber auch 90% der auf Fernost-Plattformen angebotenen Produkte nicht den geltenden europäischen Normen. Würde ein österreichischer Händler zu 90% gesundheitsgefährdende Fake-Produkte verkaufen, müsste er sofort schließen.
medianet: Das betrifft etwa die von Frau Bittner erwähnten Rabatte, nicht wahr?
Will: Temu und Shein werben mit Rabatten bis zu 90%. Heimische Händler müssen sich jedoch an das Preisauszeichnungsgesetz halten. Das heißt, der Rabatt muss sich auf den niedrigsten Preis der letzten 30 Tage beziehen. Diese und andere Vorschriften werden von ausländischen Plattformen vielfach ignoriert. Eigentlich muss der Preis, den der Kunde zahlt, Berechnungsgrundlage für Steuern sein und nicht eine manipulierte Deklaration.
medianet: Welchen Effekt hätte es, wenn die Regeln für alle gleich wären, die in der EU verkaufen?
Bittner: Es braucht faire Wettbewerbsbedingungen – ein Level Playing Field. Ab 2026 gilt EU-weit ein Vernichtungsverbot für unverkaufte Kleidung. Greenpeace fordert, dass ein solches Verbot auch für Elektronik gelten muss. Doch wie lassen sich Plattformen wie Temu kontrollieren und sanktionieren? Vieles ist rechtlich geregelt – doch es fehlt an Kontrolle, Personal, Technik und Geld.
Gemeinsam mit dem Handelsverband haben wir deshalb einen Vier-Punkte-Plan vorgestellt – mit Paketabgabe und Plattformsperren bei wiederholtem Rechtsbruch (siehe Kasten). Ja, die Herausforderungen sind groß. Aber Regelwerke wie das Lieferkettengesetz oder die Ökodesign-Verordnung im Rahmen des Green Deals sind essenziell – sie dürfen nicht verwässert werden. Jeder Zusteller, jeder Zustellerin fährt mit vollen Kofferräumen. Das muss weniger werden. Konsumenten und Konsumentinnen tragen Verantwortung, doch die Politik ist in der Pflicht.
Will: Der heimische Fiskus würde um eine Milliarde Euro mehr einnehmen – und das in Zeiten des Budgetdefizits.
medianet: Die Konsumenten hatten es in den letzten Jahren nicht leicht. Wenn das Geld knapp ist, tendieren viele zur günstigeren Variante.
Bittner: Gerade im intransparenten Bekleidungsmarkt ist es für Einzelne schwer, den Überblick zu behalten. Bei Fast Fashion hat das längst absurde Ausmaße angenommen: Designs werden leicht verändert, um kein Plagiat zu sein, sofort in Produktion geschickt – oft in kleinen Stückzahlen, mit rascher Nachproduktion bei Erfolg. Meist bestehen die Teile aus Polyester oder Plastik – extrem schädlich für die Umwelt. Selbst die chinesischen Zulieferer von Shein machen kaum noch Gewinn. Der Preisdruck ist enorm, besonders für die Näherinnen. Das ist ein massiver Rückschritt.
medianet: Ist das qualitativ viel besser als europäische Diskonter?
Will: Im Gegenteil, die Produkte der Ultra-Fast-Fashion-Anbieter aus Fernost sind von deutlich geringerer Qualität, werden schneller entsorgt und verschärfen ökologische und soziale Probleme. Ein weiterer großer Unterschied zwischen Fast Fashion und Ultra Fast Fashion liegt auch in der Masse: Shein hat tagesaktuelle Kollektionszyklen und bietet über 600.000 Artikel an, bei Zara sind es rund 9.000. Österreichische bzw. europäische Händler unterliegen auch deutlich strengeren Auflagen und Vorschriften, etwa bei Steuern, Zoll, Produktsicherheit, Umweltauflagen und Verbraucherrechten.
Bittner: Es ist eben noch einmal auf einem anderen Niveau. Als Greenpeace weisen wir auf solche Problematiken auch bei H&M, Zara oder Primark und wie sie alle heißen, auch hin, wenn Dinge passieren, die nicht in Ordnung sind, wie etwa Greenwashing.
medianet: Was kann Österreich nationalstaatlich tun – wie Frankreich?
Will: Es braucht dringend eine Plattformhaftung für die korrekte Warendeklaration, das geht auch nationalstaatlich und hat in der Vergangenheit bereits bei der Verpackungsentpflichtung funktioniert. Als Ultima Ratio sagen wir: Plattformsperrung bei wiederholtem Rechtsbruch. Wir fordern auch ein ‚Anti-Ultra-Fast-Fashion-Gesetz‘ mit Strafzahlungen und einem Werbeverbot, bis hin zu Influencern. Die Zeit drängt! In den USA sind die Verkäufe von Temu um 36% und von Shein um 13% gesunken seit Trumps Zollpolitik, in Europa steigen sie hingegen: Im Mai wuchs Shein in der EU um 19%, Temu sogar um 63%. In Europa kamen in den letzten fünf Jahren 13.000 neue Regularien hinzu, in den USA 3.500 – und in China hält sich niemand daran. Wir müssen einfach schneller auf derartige Entwicklungen reagieren, sonst werden wir ein digitales ‚Entwicklungsland‘.
Bittner: Es braucht mutige Schritte – nach dem Vorbild Frankreichs. Wir dürfen beim Umweltschutz keinesfalls zurückrudern. Eine intakte Umwelt ist die Basis für alles.
medianet: Gesetze sind nur so gut wie ihre Umsetzung. Viele China-Produkte kommen über Ungarn nach Österreich. Braucht es einen Assistenzeinsatz vom Bundesheer – wie bei der Maul- und Klauenseuche?
Will: Wir sind für alles offen, was die Warenflut eindämmt. Wir hätten also nichts gegen Schwerpunktkontrollen an den Grenzen.
Bittner: Es wäre schon viel gewonnen, wenn das, was gesetzlich geregelt ist, auch tatsächlich überwacht würde.
