MARKETING & MEDIA
© APA/AFP/Mark Ralston

Redaktion 03.04.2020

Was der Bürger nicht weiß …

… macht ihn krank: Kaum je waren Medien so wichtig wie jetzt. Doch nicht überall können sie ihre Aufgabe erfüllen.

••• Von Laura Schott

Es ist der 17. März 2020. Auf der Welt gibt es nur noch ein Thema: das Coronavirus. Längst ist es auch in Europa angekommen. In Österreich gelten seit dem Vortag allgemeine Ausgangsbeschränkungen, in Deutschland wird es noch dauern, bis sich Bund und Länder auf das „umfassende Kontaktverbot” einigen werden. 18 junge Männer und Frauen halten sich aber auch hier schon strikt an die Ausgangsbeschränkungen – und das, obwohl sie von Covid-19 noch nie etwas gehört haben. 

Die Rede ist von den Teilnehmern der 13. „Big Brother”-Staffel. Seit 10. Februar wohnen sie zusammen in der Nähe von Köln, und während die Zuseher alles wissen, was sich in den beiden Big Brother-Häusern abspielt, sind deren Bewohner komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Jeder sieht hinein, keiner hinaus. An besagtem 17. März klären Moderator Jochen Schropp und der Arzt Andreas Kaniewski die Teilnehmer schließlich doch auf: „Es geht darum, was gerade auf der Welt los ist, und da hat sich doch einiges geändert in den letzten Tagen und Wochen.” Fassungslos starren die Teilnehmer Schropp und Kaniewski an, als diese erklären, warum sie durch eine Glasscheibe von ihnen getrennt sind.

Das Luxusgut Information

Die Wahrscheinlichkeit, dass die 18 „Big Brother”-Teilnehmer tatsächlich die einzigen Menschen im deutschsprachigen Raum waren, die am 17. März noch nichts vom Coronavirus mitbekommen hatten, ist einigermaßen hoch. Denn selbst der größte News-Verweigerer hätte den Nachrichten in den vergangenen Wochen nicht entkommen können. Das Informationsangebot der Medien – privater wie öffentlich-rechtlicher – könnte umfangreicher nicht sein: Nachrichten, Sondernachrichtensendungen, Liveübertragungen von Pressekonferenzen, Livestreams, die uns 24/7 mit Nachrichten in Echtzeit versorgen, und so weiter und so fort. Ein Angebot, das wir mit einer Selbstverständlichkeit konsumieren, die man sich wohl nur in wenigen Ländern, darunter eben Österreich und Deutschland, leisten kann. Denn rund um die Uhr mit in diesem Fall lebensnotwendigen Informationen versorgt zu werden, ist für die Menschen in vielen anderen Länder beileibe keine Selbstverständlichkeit. Was aber passiert, wenn eine Pandemie ausbricht und Menschen keinen Zugang zu diesen Informationen bekommen? Etwa, weil sie keine Möglichkeit haben, überhaupt Medien zu konsumieren, weil sie keinen Internetanschluss haben, die Landessprache nicht sprechen? Oder aber, weil sich die Regierung ihres Landes dazu entschließt, Informationen unter Verschluss zu halten?

Medien gegen die Ansteckung

„Medien spielen gerade eine sehr große Rolle”, sagt Tina Bettels-Schwabbauer, Redaktionsleiterin der deutschen Website des European Journalism Observatory (EJO) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus sowie am Institut für Journalistik der TU Dortmund. „Medien und Journalismus müssen für eine Grundversorgung mit Informationen sorgen, Hintergründe recherchieren und auch eine einordnende Funktion haben. Die Berichterstattung über das Coronavirus wird gebraucht.”

Medien könnten dazu beitragen, dass alle Maßnahmen eingehalten werden, ohne dabei automatisch nur noch Sprachrohr der Regierung zu sein, erklärt sie – und dafür sorgen, dass das Virus verlangsamt wird. „Wenn die Menschen nichts davon mitbekommen, steigt die Gefahr einer Ansteckung beziehungsweise einer Expansion der Pandemie an.” Auch deshalb sollte der Journalismus in die Liste der systemrelevanten Berufe aufgenommen werden, fordert Bettels-Schwabbauer. Das hat auch der Deutsche Journalisten-Verband Mitte März schon so ausgesprochen.
Wenn also nicht 18 Menschen, sondern ganze Regionen oder gar Länder im ‚Big Brother-Modus' sind und von Informationen abgeschirmt werden, kann das die globale Verbreitung des Virus fördern und beschleunigen – nicht nur in diesem einen Land, sondern auch global. Reporter ohne Grenzen ging letzte Woche sogar so weit, zu behaupten, die Pandemie wäre der Welt erspart geblieben, hätten die chinesischen Medien nicht Zensur ausgeübt.

Einschränkungen in China

China, das auf dem katastrophalen 177. Platz der Rangliste der Pressefreiheit rangiert, hätte die Zahl der Infizierten um 86% senken können, wären die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus bereits zwei Wochen früher implementiert worden. Das ergab eine vor drei Wochen veröffentlichte Studie der University of Southampton.

Doch dazu hätte auch die Bevölkerung frühzeitig über die Ernsthaftigkeit der Lage informiert werden müssen, was die chinesische Regierung zu verhindern wusste. Die ersten Covid-19-Fälle werden verschwiegen. Der Arzt Li Wenliang wird verhaftet, als er mit einigen Kollegen angeblich „falsche Gerüchte” über ein SARS-ähnliches Coronavirus verbreitet. Wenig später stirbt er selbst an Covid-19. Beiträge im Sozialen Netzwerk WeChat werden zensuriert, wenn sie Keywords enthalten, die mit der Epidemie zu tun haben. Journalisten, die die tatsächlichen Infektionszahlen recherchieren und über die Zustände in Krankenhäusern berichten, werden verhaftet. Drei Korrespondenten des Wall Street Journal werden aufgrund eines Artikels über Chinas Umgang mit der Coronakrise des Landes verwiesen.

All das berichten westliche Medien in den letzten Tagen und Wochen. Einer, der tatsächlich vor Ort ist, ist Josef Dollinger. Er ist ORF-Korrespondent in Peking und erzählt über seine Erfahrungen seit Ausbruch der Pandemie. Konkrete Fragestellungen zu Maßnahmen der chinesischen Regierung und ihre Eingriffe in die Berichterstattung möchte er jedoch nicht beantworten.

Die Auslandskorrespondenten seien bei ihrer Arbeit in erster Linie von der Einschränkung der Bewegungsfreiheit betroffen, erklärt er: „Wer Peking verlassen hat, musste nach seiner Rückkehr zwei Wochen in Quarantäne. Außerdem darf ich weder in meinem Büro, noch in meiner Wohnung Gäste, Informanten oder Interviewpartner empfangen. Beim Betreten eines Gebäudes – sofern dies überhaupt erlaubt ist – werden Körpertemperatur, Name, ID-Nummer und Telefonnummer abgefragt. Ungestört treffen kann man sich derzeit nur in den Parks.” Auch Interviews auf der Straße seien schwierig, da ständig die Kontrolle durch eine Aufsichtsperson drohe.

Keine Zensur im Fernsehen

Manche Journalisten haben nur ein verkürzt geltendes Journalistenvisum bekommen: Statt ein Jahr dürfen sie jetzt nur drei bis sechs Monate bleiben. Parallel zu den Berichten über abgeschobene US-Journalisten gebe es auch Gerüchte, dass auf chinesische Mitarbeiter ausländischer Medien verstärkt Druck ausgeübt werde. Seine Mitarbeiter seien davon aber bislang nicht betroffen, erklärt Dollinger. Auch technisch habe es bislang keinerlei Einschränkungen gegeben: „Unsere Internetverbindungen wurden während der gesamten Dauer der Pandemie bisher nicht beschränkt oder gebremst.” Entgegen den gängigen Annahmen sei auch die Berichterstattung ausländischer TV-Sender, die in China empfangen werden, nicht zensuriert worden. Dollinger: „Normalerweise wird bei schlechten Nachrichten über China der Bildschirm hier bei CCN oder BBC schwarz.”

Sündenböcke der Regierung

Um mangelhafte Berichterstattung über das Coronavirus zu finden, muss man jedoch nicht zwingend in die Ferne schweifen – es genügt ein Blick in unser Nachbarland Ungarn. Ministerpräsident Viktor Orbán und seiner Regierungspartei Fidesz nahestehende Medien stellten die Gefahr des Coronavirus zunächst als übertrieben dar, verharmlosten sie – sofern sie überhaupt darüber berichteten. Die unabhängigen Medien hingegen betrieben bereits zu Beginn der Pandemie Aufklärung und warnten die Menschen vor einer möglichen Eskalation, wie sie zu diesem Zeitpunkt etwa in Norditalien bereits im Gange war. Das jedoch sei eine „Herausforderung”, erklärt Alexander Dworzak, Außenpolitik-Redakteur der Wiener Zeitung und Mitglied bei ‚Reporter ohne Grenzen': „Die Informationen der Regierung sind extrem spärlich. Es gibt etwa keinerlei Auskunft über regionale oder Altersstrukturen der Infizierten. Dafür kann man sehen, woher die Menschen kommen, die positiv getestet wurden – was in diesem Zusammenhang natürlich mäßig relevant ist.”

Heute kann die Gefahr durch Covid-19 niemand mehr leugnen, auch Orbán nicht. Aber ein Feindbild kann man schaffen, Sündenböcke benennen. Und die habe Orbán in der Opposition und den unabhängigen Medien gefunden, erklärt Dworzak. Bald werden sie öffentlich in regierungsnahen Medien diffamiert, von der Regierung als „Corona-Kollaborateure” bezeichnet, die sich gegen Ungarn stellen und auf die man sich nicht einmal in Notsituationen mehr verlassen könne.

Druck zu mehr Selbstzensur

Die Entwicklungen der darauffolgenden Tage erschweren die Situation der unabhängigen ungarischen Medien noch um ein Vielfaches: Vergangenen Montag beschloss das ungarische Parlament das Coronavirus-Notstandsgesetz, das Orbán auf unbestimmte Zeit ermöglicht, per Dekret zu regieren. Und das außerdem Journalisten mit ein bis fünf Jahren Haft bedroht, sollten diese bewusst „Falschmeldungen” über das Coronavirus verbreiten – eine gewagte Terminologie, findet auch Dworzak, denn hier eine klare Grenze zu ziehen, sei fast unmöglich. Dass es tatsächlich zu Verhaftungen kommen wird, glaubt er allerdings nicht: „Das würde international viel zu viel Aufsehen erregen und auf starken Widerstand stoßen. Das ist Orbán bei der Schließung der regierungskritischen Tageszeitung Népszabadság 2016 passiert – diesen Fehler macht er nicht noch einmal.” Vielmehr wolle Orbán mit dem Gesetz den Druck zur Selbstzensur der Medien erhöhen.

Nicht nur politische Gründe

Covid-19 setzt den unabhängigen Medien in Ungarn auf allen Ebenen zu, nicht zuletzt auf der wirtschaftlichen. Während die Regierung den ihr genehmen Medien Inserate zukommen lässt, kämpfen die unabhängigen in der Krise ums Überleben. Über Crowdfunding suchen sie Unterstützung bei jenen, die in Ungarn noch Interesse an unabhängiger Berichterstattung haben. Auch zwei der größeren unabhängigen Onlinezeitungen, index.hu und 444.hu, haben Spendenaufrufe gestartet. „‚Index' will den Menschen in einer so heiklen Situation Geld aus der Tasche ziehen, damit sie weiterhin gefälschte Nachrichten über ihre beiden Lieblingsthemen, Bildung und Gesundheitsversorgung, verbreiten können”, kommentierte das regierungsnahe Online-Portal origo.hu dieses Vorhaben.

Lücken in der Corona-Berichterstattung haben also oft politische Gründe. Sie können aber auch schlicht und einfach sprachlich bedingt sein, wie Levi Obonyo, Professor für Journalismus an der Daystar University in Kenia, in einem Artikel auf der Website des EJO schreibt. In seinem Heimatland bestehe die größte Herausforderung darin, die gesamte Bevölkerung überhaupt mit verständlichen Informationen über das Virus zu erreichen. Denn bislang gebe es kaum Übersetzungen in die lokalen Sprachen, von denen es in Kenia über 40 gibt.

Ein Appell zum Austausch

Doch wie können diese Unzulänglichkeiten reduziert, die Informationsdefizite abgebaut werden? „Kollaborativer” beziehungsweise „Cross-Border-Journalismus” lautet die Antwort von Tina Bettels-Schwabbauer. „Es ist wichtig, die Perspektiven anderer Länder miteinzubeziehen, um die Situation im eigenen Land besser zu verstehen. Das lässt sich auf die Coronakrise gut übertragen.” Netzwerke zu forcieren und weiter zu etablieren, könne dabei helfen, wichtige Informationen auch in jene Ecken der Welt zu bringen, die erschwerten Zugang dazu haben. Das Bewusstsein für internationale Kooperation sei bereits da, ist Dworzak überzeugt. Das Problem sei jedoch oft die Informationsbeschaffung im eigenen Land. Was die Regierung nicht publiziert, kann oft nur schwer recherchiert werden – essenzielle Daten über Infizierte und Testungen etwa.

Vordringlich müssen Informationen global ausgetauscht werden, um das Virus zu bezwingen, schreibt auch Yuval Noah Harari vor einigen Tagen in der NZZ und illustriert seinen Appell mit diesem Gedankengang: „Ein Coronavirus in China und ein Coronavirus in den USA können sich keine Tipps geben, wie sie die Menschen am besten anstecken. Aber China kann die USA viele wertvolle Lektionen lehren, wie mit dem Coronavirus umzugehen ist.”

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