Facettenreich Die Schmuckherstellung in Wien reicht zurück bis ins Hochmittelalter; seit dem 19. Jahrhundert ist sie weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Alteingesessene Betriebe und junge Schmuckkünstler führen diese besondere Tradition weiter. Mit ihrem Know-how und ihren einzigartigen Kreationen können sie sich auch internationalen Brands gegenüber behaupten.
Wien. Der Wunsch, sich zu schmücken, ist tief in der menschlichen DNA verankert. 2009 wurden bei Ausgrabungen in der Grotte des Pigeons bei Taforalt in Marokko perforierte und teilweise mit Ocker bemalte Nassarius-Muscheln entdeckt; ihr Alter datieren die Archäologen auf mehr als 82.000 Jahre. Ein Beweis, dass schon der frühe moderne Mensch – ob als Zeichen seines Status innerhalb der Gruppe oder aus purer Lust am Schönen – Schmuck trug.
Muscheln werden auch heute noch in der Schmuckherstellung verwendet, aber seit der Mensch die Kunst der Metallverarbeitung gelernt hat, ist Gold die erste Wahl.
Große Geschichte
Die ältesten Zeugnisse der Goldschmiedekunst in Europa stammen aus dem bulgarischen Warna, und viele der bis zu mehr als 6.000 Jahre alten Hals- und Armreifen, Ketten, Broschen und Schnallen wirken erstaunlich modern und würden auch heute Käufer finden.
Bis in die Kupfersteinzeit reicht die Geschichte der Wiener Juweliere zwar nicht zurück, sondern „nur” bis ins Mittelalter. Der älteste namentlich bekannte Goldschmied war um das Jahr 1170 Meister Bruno „aurifex”. Rund 200 Jahre später, am 13. Oktober 1366, wurde den Wiener Goldschmieden die Handwerksordnung verliehen, ein Jahr später schrieben sie ihre Zechordnung nieder und wählten den Heiligen Eligius, Schatzmeister des Merowingerkönigs Chlothar II. (584–628), zu ihrem Schutzpatron.
Eine vitale Branche
Laut aktueller Statistik der Wirtschaftskammer gibt es in der Bundeshauptstadt zurzeit knapp 420 Einzelhandelsunternehmen im Schmucksektor. Neben klassischen Juwelieren, in deren Sortimenten natürlich auch die Stücke internationaler Topplayer wie Tiffany, Chopard, Piaget, Bulgari oder Cartier glänzen, können sich auch alteingesessene Manufakturen und junge Ateliers am Markt behaupten.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand bzw. in den Schaufenstern und Vitrinen – etwa bei Ursula Neuwirth. Ihr Geschäft liegt abseits des Trubels der Innenstadt und beweist, dass eine schicke Cityadresse keine Voraussetzung ist, zu den ersten Adressen der Stadt in Sachen hohe Juwelierskunst zu zählen.
Dass, wie zahlreiche Marktstudien der letzten Jahre zeigen, die Nachfrage nach Maßarbeit und einzigartigen Stücken steigt, kann sie bestätigen: „Der Grund liegt – wie auch in der Mode – darin, dass Damen den Wunsch haben, sich individuell zu kleiden.” Allerdings spielen beim Thema Schmuck nach Maß aktuelle modische Trends eine vergleichsweise kleine Rolle. „Bei Sonderanfertigungen wird eher auf zeitloses Design Wert gelegt.”
Daneben sind auch Alltagstauglichkeit und Tragekomfort wichtige Aspekte, mit denen selbst extravagante Stücke aus Neuwirths Atelier glänzen können. Denn was nützt schon das perfekt zum Typ passende Stück, wenn man es nur zu besonderen Anlässen tragen kann?
Glänzend positioniert
Der Konkurrenz der großen Brands als kleiner Betrieb Paroli zu bieten, sei nicht einfach. Abgesehen von höheren Preisen beim Materialeinkauf von vergleichsweise kleinen Mengen und der lokalen Fertigung in Österreich, ist es die große Werbemaschinerie, die hinter den hochkarätigen Produkten der Big Player steht; das sei eine große Herausforderung.
Neben der Mundpropaganda sei es wichtig, „in allen zur Verfügung stehenden Medien präsent zu sein, besonders im Internet, da es ständig an Bedeutung gewinnt”, sagt Neuwirth, die ihre funkelnden Pretiosen auf ihrer Firmenwebsite präsentiert und zudem die Sozialen Netzwerke aus digitale Auslage nutzt. „Ich bin seit mittlerweile fünf Jahren auf Facebook aktiv, und diese Schiene ist eine wichtige Ergänzung zu den anderen Werbeaktivitäten.”
Der Onlinehandel ist – obwohl dieser Kanal im gehobenen Schmucksegment laut den Prognosen des US-amerikanischen Marktforschungsinstituts TechNavio bis 2021 um immerhin fast 17% zulegen wird –, für Neuwirth im Moment aber kein Thema: „Ich glaube, dass die Haptik im hochwertigen Bereich eine entscheidende Rolle spielt.”
Aus ihrer Sicht sehr gut bewährt haben sich Veranstaltungen. Schon Tradition haben die Schmuckevents, zu denen Neuwirth zwei Mal jährlich einlädt, um bestehenden und potenziellen Kunden ihre Kreationen persönlich zu präsentieren. Daneben nimmt sie jedes Jahr an der Designmesse im Museum für Angewandte Kunst (MAK) sowie an der Vienna Time teil, die heuer beide vom 10. bis 12. November stattfinden.
Facettenreiches Design
Ein Beispiel für die junge Schmuckkünstler-Szene in Wien ist Ernestine Navratil. Erst zehn Jahre alt, hat sich das auf Unikate spezialisierte Atelier vor allem in jenen Kreisen einen guten Namen gemacht, die sich für kostbare Steine und ungewöhnliche Formen begeistern, dabei aber auch auf nobles Understatement Wert legen – also Schmuckstücke, die nicht schon auf den ersten Blick ihren Wert verraten.
„Unser Stil ist reduziert und elegant. Oft bewegt sich ein Schmuckstück um einen außergewöhnlichen Stein herum. Die finden wir über unsere guten Kontakte zu Edelsteinhändlern. Wir verwenden aber auch Vintagesteine. Die alten Schliffe, wie den Cushion mit seinen kleinen Unregelmäßigkeiten, finde ich besonders charmant”, erklärt Co-Geschäftsführerin Lisa-Charlotte Sonnberger.
Kreativ & individuell
Die Auftragslage sei gut, bestellt werden sowohl neue Stücke als auch Entwürfe, mit denen einem Stein aus einem alten Schmuckstück ein glanzvoller neuer Rahmen verliehen wird. „Die Menschen suchen vermehrt wieder Unverwechselbarkeit, Persönlichkeit und Handwerk.”
Inspirationen holt sich Sonnberger gern aus der Welt der Kunst – kein Wunder, sie ist nicht nur ausgebildete Goldschmiedin, sondern kann auch ein Studium der Kunstgeschichte vorweisen. Eine recht ungewöhnliche Kombination, „aber ich finde, dass sich die beiden Bereiche wunderbar ergänzen”. Sie steht auch in engem Kontakt mit anderen jungen Schmuckkünstlern sowie der Alchimia in Florenz, einer der weltweit renommiertesten Ausbildungsstätten zum Thema zeitgenössisches Schmuckdesign.
Begeistern kann sie sich aber auch für Schätze der Vergangenheit: Gemeinsam mit Cornelie Holzach, der Direktorin des Schmuckmuseums in Pforzheim, hat sie 2014 die Jubiläumsausstellung zum 200jährigen Bestehen von Juwelier A. E. Köchert kuratiert.
Internationale Klientel
Das renommierte Unternehmen ist ein Paradebeispiel für das große Know-how der Wiener Goldschmiedetradition. Nach wie vor sind die weltberühmten Sisi-Sterne, die entweder, wie ursprünglich vorgesehen, als Haarnadeln, aber auch zeitgemäß als Broschen oder Kettenanhänger getragen werden können, Teil des exquisiten Sortiments, von dem gut ein Drittel auf Maßarbeiten nach Kundenwunsch entfällt.
In dieser edlen Nische ist das Unternehmen nicht nur am Wiener Markt, sondern auch international erfolgreich. Seit 20 Jahren präsentiert man seine edlen Pretiosen im Sommer in Fuschl und im Winter in den Nobelwintersportorten Zürs und Lech und damit in typischen Habitaten anspruchsvoller und zahlungskräftiger Kundschaft aus aller Herren Länder. Heuer hat man erstmals auch eine Schmuckveranstaltung in Monaco organisiert, dessen Fürstenfamilie seit Langem ein treuer Köchert-Kunde ist.
Edle Neuheiten
Modernes Design steht bei Schullin, einem weiteren Schmuckstück der Wiener Juwelierszene, im Fokus. „Wir versuchen, die Zeit abzubilden, in der wir leben, anstatt Epochen nachzuahmen, die es bereits gab”, sagt Inhaber Lukas Schullin.
Die Hauptrolle spielt neben kostbaren Steinen und Perlen natürlich Gold, seit Kurzem hat man aber auch eine Silberkollektion im Programm. „Wir wollten nie mit Silber arbeiten, weil es stark oxidiert und nach einer Weile einfach nicht mehr schön ist. Vor einigen Jahren kam eine neue Silberlegierung auf den Markt namens Argentium, die weißer als Sterlingsilber ist und nicht oxidiert. Da konnten wir nicht anders”, so Schullin zur neuen Serie, über die sich all jene freuen können, die exklusives Wiener Schmuckdesign tragen wollen, ohne ihr Portemonnaie zu strapazieren. Und die It’s Silver-Serie kann über die Schullin-Website auch online gekauft werden.
Für alle anderen Schmuckstücke muss man ins Geschäft am feinen Kohlmarkt kommen. „Hochpreisige Stücke müssen erst gespürt, getragen und im Spiegel betrachtet werden”, ist Schullin überzeugt, dass die Haptik, das sinnliche Erleben und natürlich auch die persönliche Beratung in seinem Metier nicht durch digitale Technik ersetzt werden können.
Steigende Nachfrage
Einen deutlichen Trend weg vom Mainstream und hin zum Besonderen, zum Individuellen in Sachen Schmuck, sieht auch Anton Heldwein. Zwar führt der Nobeljuwelier auch ausgesuchte Marken wie Pomellato, Carrera Y Carrera, Ole Lynggaard, Gellner oder Vhernier, aber seinen exzellenten Ruf verdankt das Unternehmen vor allem den Kreationen aus der eigenen Werkstätte.
Die Aufträge für Umarbeitungen alter Schmuckstücke sowie für neue Maßanfertigungen steigen kontinuierlich; gleichzeitig kommt die 1902-Kollektion, eine Hommage an das Gründungsjahr des Unternehmens, in der historische Formen neu und modern interpretiert werden, bei den Kunden sehr gut an. „Zu den Ringen fertigen wir auch Ohrringe und Anhänger an, und ich denke schon über eine Erweiterung nach”, verrät er. Man muss keine Kristallkugel haben, um vorauszusagen, dass die mit Sicherheit auch viele Freunde finden werden.